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Großer Preis des Deutschen Literaturfonds 2022 an Georg Klein

Den mit 50.000 Euro dotierten „Großen Preis des Deutschen Literaturfonds“ erhält in diesem Jahr Georg Klein. Er wurde von der Jury, bestehend aus Birte Lipinski, Manuela Reichart und Hans Thill, aus dem Kreis der bisher durch den Deutschen Literaturfonds geförderten Stipendiaten und Stipendiatinnen gewählt.

Der Preis wurde am 28. November 2022 im Literarischen Colloquium Berlin überreicht.

Der Große Preis des Deutschen Literaturfonds

Der Deutsche Literaturfonds, der sich seit 1980 der Förderung deutschsprachiger Gegenwartsliteratur widmet, hatte 2020 sein 40-jähriges Jubiläum zum Anlass genommen, erstmals den mit 50.000 Euro dotierten Großen Preis des Deutschen Literaturfonds zu vergeben. Der Preis geht hervor aus dem zuletzt mit 30.000 Euro dotierten Kranichsteiner Literaturpreis, der zwischen 1983 und 2019 jährlich durch den Deutschen Literaturfonds in Darmstadt verliehen wurde.

Preisverleihung des Deutschen Literaturfonds 2022

Begründung der Jury

In seinem aktuellen Roman Bruder aller Bilder werden wir unmerklich ins Geheimnisvolle geführt: Heiter und mit Kolorit aus dem publizistischen Arbeitsleben beginnt er und wechselt dann auf fantastische Weise in eine traumverlorene Wirklichkeit. Es sprechen die Toten und die Lebenden müssen - wie es an einer Stelle heißt – „ausnahmswach“ sein. Und wir staunen beim Lesen über die Sprach- und Fabulierfähigkeit dieses Autors, der hier das Genre des Schauerromans benutzt und variiert.

Das zeichnet das literarische Werk von Georg Klein von Beginn an aus: Ein virtuoses Spiel mit bekannten Genres, die stets eine literarische Umwertung erfahren. In diesem Sinn war sein erster Roman Libidissi (1998) ein Agentenroman, Barbar Rosa (2001) eine Detektivgeschichte, Die Zukunft des Mars (2013) eine Science-Fiction-Variation und, auch wenn Klein das bekannte Muster der Erinnerungsprosa benutzt, in seinem Roman unserer Kindheit (2010) wird daraus eine Reise ins Unheimliche. Was Literatur vermag, uns nämlich in fremde, in bedrohliche Welten und Weltsichten zu entführen, in denen Schein und Sein nicht getrennt sind, davon erzählt das umfangreiche Werk dieses Autors, der die Konventionen des Romans ebenso beherrscht wie bricht, der komisch und düster, aufregend und überraschend von der Wirklichkeit erzählt, indem er ihr selbstbewusst die Fantasie gegenüberstellt.

Die Jury vergibt deswegen mit Bewunderung den Großen Preis des Deutschen Literaturfonds 2022 an den Schriftsteller Georg Klein.

Begründung der Jury, der Birte Lipinski, Manuela Reichart und Hans Thill angehören

Laudatio auf Georg Klein von Jutta Person

Sehr geehrte Damen und Herren, lieber Georg Klein,

dass man eine Seele kaufen und sogar aufessen kann, ist wahrscheinlich eine sehr süddeutsche Angelegenheit; jedenfalls findet man in Berliner Bäckereien nur wenige und selten überzeugende Ausnahmen. Ein salziges Teilchen, das Seele heißt und im Leib einer anderen Seele landet, hat in der hiesigen, eher agnostischen Backwarenszene keine Chance, vielleicht auch, weil da einfach zu viel Wandlungsmagie im Spiel ist. Erstmals literarisch gewürdigt wird die Seele als Bäckereierzeugnis in Bruder aller Bilder, dem jüngsten Roman von Georg Klein. Hier verschlingt eine junge Journalistin eine ofenfrische Hefeseele, hungrig geworden von ihren Recherchen im Transitbereich der Lebenden und der Toten.

Überhaupt werden auffällig viele Backwaren verzehrt in diesem Roman, denn neben der jungen Journalistin mit dem Kürzel MoGo treten zwei „ältere Knaben“ auf, die sich als Wiederholungstäter im Kuchenessen outen. Addi Schmuck ist Sportreporter bei der „Allgemeinen“; sein gleichermaßen aus der Zeit gefallener Freund, genannt „der Auskenner“, lebt in einer alten Werkhalle, beinah idyllisch eingerahmt von Ulmen und Eulen, Taubnesseln und Nacktschnecken. MoGo, Addi und der Auskenner: Dieses Trio führt uns allmählich in eine Dämmerzone zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen Tag und Traum – umflattert von Tauben und Fledermäusen, umschwebt von Geistern mit Gesprächsbedarf. Fast schon in Dauerschleife gibt es Süßes oder Salziges (selbst die Fledermäuse werden mit Wurmkost aus einem Futterkarussell versorgt).

Wir wären aber nicht in einem Roman von Georg Klein, wenn dieser freundlich-kauzige Kuchenfetisch mit seinen Mohnschnitten, Brezeln und Hefeseelen nicht auch geheime Triebmittel freisetzte. Ein zarter Schrecken zieht über die Zunge in den Leib. Tatsächlich ist es der Teig, der eine Spur legt ins Kleinsche Werk. Schließlich lautet die Zauberformel des Romans „Der Teig ist nicht tot“ – und die junge Journalistin gerät „über irgendeinen untoten Brotteig, vielleicht auch untoten Kuchenteig“ ins Grübeln. Aber nicht nur der Teig, sondern auch Tiere, Pflanzen, Telefone, Fernseher und nicht zuletzt MoGos bereits gestorbene Mutter verwandeln sich in hoch vitale Netzwerke. Medien, im spiritistisch-altmodischen Sinn, werden zu magischen Kanälen. Mechanisches, wie auch Organisches, sucht ganz von selbst nach neuen Plug-In-Möglichkeiten. „Es lebt!“, so könnte man das selbsttätig Animierte mit dem berühmten Frankenstein-Ausruf zusammenfassen, auch wenn das „Es“ in diesem Fall nicht als klumpiges Monster auftritt. Gemeint ist stattdessen etwas vielgestaltig Wimmelndes, das genauso in den Mikroben eines Hefeteigs wohnt wie in der wuchernden Vegetation oder den kommunizierenden Röhren eines alten Fernsehers.

Diesen modernen Wendepunkt im Lebensbegriff bringt Georg Klein in einem Nachwort zu Mary Shelleys Frankenstein auf den Punkt: „Von einem glücklichen Einklang mit der Natur, von einem sinnigen Miteinander des Belebten und Unbelebten, gar von einer Harmonie der Schöpfung kann nicht mehr die Rede sein. Denn das Reich des Lebendigen, dem wir doch zweifelsfrei angehören, ist uns auf eine paradoxe Weise fremd geworden.“

Die gestaltwandlerische Kunst Georg Kleins besteht darin, dieses Paradox des modernen, fremd gewordenen Lebens in all seinen quecksilbrigen Facetten aufzufächern. Kleins Prosa entwirft Phantasiewelten, die sich unendlich weit von den handelsüblichen Realismen oder von bekenntnishafter Ichfindung entfernen. Seine Bücher erzählen von wild mutierender Biomasse, von Höhlensystemen, Labyrinthen und Marsbesiedlern – und gleichzeitig auch, wie durch ein psychedelisches Prisma, vom Verdrängten der Nachkriegszeit und der nur scheinbar bereinigten Gegenwart. Georg Klein, der 1953 in Augsburg geboren wurde, hat auch seine Herkunft und Kindheit durch dieses Prisma geschickt, in seinen Romanen findet man die Neubausiedlungen der sechziger Jahre ebenso wieder wie das jetzige Augsburger Sportstadion. Aber diese Literatur ist dabei alles andere als authentisch, denn Klein schreibt mit der Macht der Imagination, die das vermeintlich Wirkliche in eine Traumwelt übersetzt. In seinen Erzählungen Von den Deutschen etwa werden unheimlich vertraute Charaktere durch den Mythenwolf gedreht und anschließend als Riesen, Recken oder Wichte neu sortiert. All das geschieht in einer Sprache, die einen unverwechselbar poetischen Rhythmus hat: Jede Hebung, jede Senkung folgt einem gut versteckten Versmaß und führt in einen melodiösen Schwebezustand. Schreiben, hat der Autor einmal gesagt, das sei für ihn Kontrollverlust.

Das planlose Treibenlassen kennzeichnet etliche Figuren im Kleinschen Kosmos: sie sind schlafwandlerisch passiv und gleichzeitig von einem anarchischen Überschuss befeuert, was sich schon im fulminanten ersten Roman Libidissi von 1998 zeigte. Ein abgehalfterter Auslandsagent mäandert durch eine düster-orientalische Metropole und versucht, zwei Verfolger abzuschütteln, die ihm das deutsche „Bundeszentralamt“ auf den Hals gehetzt hat. Mit Libidissi wurde Klein sozusagen über Nacht berühmt: „Erster Roman“ ist übrigens nicht ganz richtig, denn der damals 45-jährige Autor hatte schon jahrelang geschrieben, auch Romane, aber keinen Verlag gefunden. Mit einem Auszug aus dem Roman Barbar Rosa gewann er im Jahr 2000 den Bachmannpreis. Hier, in Barbar Rosa, wandert ein Privatdetektiv durch einen modernden Moloch, in seiner ganzen Hefeseelenlosigkeit klar als Hauptstadt zu erkennen. Die Planlosigkeit dieses Privatdetektivs folgt dabei einem raffinierten Programm: Eine „höhere Blödigkeit des Vorwärtsstolperns“ treibt ihn, nur im „Kriechgang des Erkennens“ kommt er voran.

Erkenntnis funktioniert bei vielen Klein-Figuren über den Körper, sie fährt durch alle Glieder, hängt in der Nase fest oder läuft in Schauern und Allergieschüben über die Haut. „Funktionieren“ ist dabei allerdings ein ganz verkehrtes Verb, denn gerade gegen die Funktionstüchtigkeit, gegen das gut Geschmierte und logisch Getrimmte sind diese reizbaren Helden immer angestolpert. In ihrer Renitenz, in ihrem feinnervigen Spürsinn, liegt auch ihr größter Trumpf.

Man hat Georg Klein immer wieder als „Meister der Dämonen“, als „schwarzen Romantiker“ oder als „Poetologen des Schreckens“ bezeichnet, und alle diese Ehrentitel sind sicher nicht falsch. Sie verstellen aber auch den Blick auf eine halluzinatorisch erleuchtete Tagseite. Anarchischer Witz und erlösende Komik gehören hierher, und nicht zuletzt mit ihrer Hilfe, mit solchen blitzartigen Eingebungen, wird auch der Schrecken wieder ins Helle katapultiert – oder genauer: ins furiose Farbgewitter, denn Klein ist auch ein Synästhetiker, der Formen, Farben und Gerüche zusammenwachsen lässt. Wo Schock war, soll Sprache werden: So bannt im Roman unserer Kindheit, der 2010 mit dem „Preis der Leipziger Buchmesse“ ausgezeichnet wurde, eine Kindergruppe alle Gefahren mit magischen Ritualen.

Auch im anfangs erwähnten, jüngsten Roman Bruder aller Bilder sind es die Wiederholungen, die das bereits Geschehene zu exorzieren scheinen. Gleichzeitig ist es das Erzählen selbst, das doppelzüngig zwischen Austreiben und Neuerfinden changiert. Addi Schmuck, der Sportreporter, scheint einen alten Unfall nachzuspielen. Soll dieses Re-Enactment eine Jenseitsschleuse öffnen, um einen nur halb Gestorbenen zurückzubringen? Überall Déjà vu und Zeitschleifen: Eine Taube, oder eigentlich zwei Tauben spielen dabei die Schlüsselrolle, als Botschafterinnen des Übersinnlichen. Wer hier wann die große Flatter macht, bleibt bis zuletzt ein wohlgehütetes Geheimnis. Mit seiner Kunst, den Vogelflug zu deuten, zeigt Georg Klein erneut – und wieder auch ganz anders –, was sein phantastisches Erzählen kann. Traumtiere öffnen die Kanäle, und Pflanzen ranken eigenmächtig vor sich hin, mit einer Wurzel immer schon im Jenseits.

Georg Klein, der mit seiner Frau, der Schriftstellerin Katrin de Vries, seit über zwanzig Jahren in Ostfriesland lebt, hat einmal von sich behauptet, er kenne sich gar nicht besonders gut mit Pflanzen oder Tieren aus. Das war vermutlich nur anti-bescheidwisserisches Understatement. Wer das Leben – als utopischen Triebstoff verstanden – derart durch alle Gattungen und Register morphen lässt, der sieht und hört viel mehr als das, was unter Wirklichkeit firmiert.

„Alles, was lebt“, so soll MoGos neue Zeitungsserie in der „Allgemeinen“ heißen; wahrscheinlich finden auch die Geister aus den alten Medien einen Platz in diesem Parlament der Dinge. Am Ende des Romans klingt das dann so: „Es tauscht und wechselt. Es nimmt und gibt. Da drunten, da draußen auf dem Gelände, hilft es sich weiterhin, so gut es kann.“ Die ganze netzwerkende Biomasse dreht dabei immer weiter ihre Kreise. Und mittendrin: Georg Klein, der Meister der Metamorphosen.

Herzlichen Glückwunsch, lieber Georg Klein, zum Großen Preis des deutschen Literaturfonds!


Dankrede von Georg Klein

KEEP IT PRIVATE, KEEP IT SMALL

Ein Freund und Kollege – meine sehr verehrten Damen und Herren! – ein befreundeter Autor, hob, als wir auf die anstehenden, auf die heutigen Preisverleihungen zu sprechen kamen, die rechte Hand und spreizte alle Finger: “Fünf! Maximal fünf Minuten,!“, meinte er, eindringlich, fast beschwörend. „Deine Dankesworte, Georg: Auf keinen Fall länger als fünf Minuten! Alllein schon weil der Preis, den Du erhalten wirst, ausnahmsgut dotiert ist, eher vier Minuten. Die schöne runde Summe spricht für sich und dich!

Die vorausgegangene Laudatio darf lang gewesen sein, zumindest sollte sie Dauer suggerieren. So eine Laudatio ist Zeitspiel und Zeitversprechen. Sie versichert durch ihr Ausholen und Zurückschweifen, dass gute Schaffenszeit war, und verspricht, dass noch gute Schaffenszeit sein wird. Das Lob behauptet: Kommt Zeit kommt Werk. Sogar, wenn du offensichtlich steinalt wärst, Georg, und höchstwahrscheinlich gar nichts mehr käme, sänge eine Laudatio, während sie vordergründig von Vergangenem, von Vollbrachtem handelt, ein Liedchen von dem, was noch kommen könnte. Die Laudatio glaubt an dich!

Hierfür kannst Du dem Genre und der Person, die diesem für Dich Leben eingehaucht hat, also Deiner Laudatorin, ausdrücklich dankbar sein.“

Mein Freund, der heute Abend leider nicht unter uns sein kann, riet mir damit - nicht zum ersten Mal! - zu Maß und Zurückhaltung:

„Ich kenn’ Dich, Georg. Ich weiß, wie Du dich bei Gelegenheit aufplustern kannst. Glaub mir, bereits sechs Minuten, geschweige denn eine geschlagene Viertelstunde, das würde den schönen strammen Bogen der gegebenen Umstände überspannen.

„Keep it private, keep it small!“

Mein Freund ist im Englischen, besonders im Amerikanischen auf eine beeindruckende, für mich fast unheimliche Weise zuhause. Er kann, wie es die Gelegenheit gebietet, quasi aus dem Ärmel des Augenblicks, aus dieser Brudersprache des Deutschen zitieren:

Keep it private, keep it small!

Von wem könnte das sein?

Ich habe leider versäumt, meinen Freund danach zu fragen.

Vielleicht zitierte er auch gar nicht, sondern hatte die Kombination „private / small“ im Schwung, im Überschwang unseres Gesprächs unter Männern, schlicht erfunden.

Bei mir rührte sein suggestives „Small“ an eine frisch empfindliche Stelle: Zum bunesweiten Tag des Vorlesens war ich in einer hiesigen Grundschule angetreten, und als ich mich einer Klasse mit Drittklässlern vorstellte, begann ein Mädchen heftig zu kichern. Wie ich, sie – irriert! - nach dem Grund hierfür fragte, meinte sie: „Das ist so lustig. Das ist so lustig! Du heißt „Klein“ und du bist klein!“

„Keep it private! Keep it small.“

Ich glaube, die zweite meiner fünf Minuten läuft schon!

„Sag mal, Georg!“, nahm mein Freund den Faden unserer Unterhaltung wieder auf. Was schreibst Du gerade so? Kommendes Frühjahr gibt es ja endlich deinen vierten Band mit Erzählungen. Aber, ich kenn’ dich: Du bist bestimmt schon wieder mit etwas Längerem zugange. Na, eigentlich finde ich deine kürzeren Stücke besser als deine Romane. Aber sei’s drum! Worum wird’s im nächsten dicken Ding gehen? Komm, verrat schon! Bring’s auf den Punkt! Für mich! Es bleibt auch unter uns ...“

Mein Freund, der heute Abend leider nicht leibhaftig anwesend sein kann, ist ein Genie der Begrifflichkeit.

Wenn es gilt, über Literatur zu sprechen oder zu schreiben, gelingt ihm scheinbar mühlos, der Sprung in ein trifftiges theoretisches Räsonnement. Dies gilt auch für seine Reaktion auf meine Texte. Von keinem lass ich mir lieber erklären, worum es in diesen letztendlich geht. Selber neige ich, wenn man mich nach dem Warum, dem Wieso oder dem Wozu meiner Sachen fragt, zu einem mäandernden Ausweichen, manchmal gar zu einem latent übellaunigen Verstocken.

„Georg, vor mir brauchst Du dich, nach all den Jahren, wirklich nicht mehr zu genieren. Spring über deinen Schatten! Verrat mir, worüber du schreibst. Komm schon! Bitte! Auch für die letzten, für die allerletzten Dinge, gibt es jede Menge vorletzter Wörter.

Ich gebe dir dafür – quasi im Austausch! - einen Tipp unter Freunden. Für die kommende Preisverleihung! Pass auf, Georg! Du erzählst einfach etwas, was Du noch nie erzählt hast. Sag eingangs aber auch, dass Du es noch nie erzählt hast. Ansonsten muss es nur halbwegs passen: Es müsste halt irgendetwas mit „Dank“ zu tun haben.

Und wie gesagt: „Keep it private, keep it small!“

Okay! Okay! Ich will es mit etwas ziemlich Privatem versuchen:

Mein Onkel Karl, jüngerer Bruder meiner Mutter war Elektriker und unterhielt mit der Chefin der Firma, bei der er tätig war, jahrzehntelang ein amouröses Verhältnis. Das Elektroinstallationsgeschäft seiner Geliebten und damit mein Onkel in persona erledigte in einer großen Ausburger Druckerei die dort regelmäßig anfallenden Arbeiten. Und weil mein Onkel die Leswut seiner beiden Neffen kannte, kam es dazu, dass er mir und meinem jüngeren Bruder mitbrachte, was dort als Fehldruck, zum Beispiel mit schiefen oder auf dem Kopf stehenden Seiten aussortiert wurde.

Aus seiner Arbeitstasche kippte mein Onkel wie aus einem schwarz- ledernen Füllhorn auf unseren Wohnküchentisch: Die drei Nachkriegsromane Wolfgang Koeppens in einem Band, Alberto Moravia: „Der Konformist“, „Marquis de Sade: Die 120 Tage von Sodom“. Koeppen, Moravia, de Sade! Das sind zumindest die drei Autoren, die mir, wenn ich daran denke, als erste einfalllen.

„Gar nicht schlecht!“, meinte mein Freund, nachdem ich ihm - wie einem Vorkoster des heutigen Abends! - diese Szene-mit-Onkel zum besten gegeben hatte.

„Gar nicht schlecht, Georg! Das kannst du in Berlin verwenden: Die Produktion der deutschen Qualtitätsverlage in den mittleren 60er Jahren, der Onkel, der seine Neffen richtig einschätzt. Der proletarische Wohnküchentisch, auf dessen Platte das fehlgedruckte Bildungsgut poltert. Der heutige deutsche Literaturfonds. Da schließt sich in deinem Schriftstellerleben ein weitgespannter, zweifelsfrei dankbarer Kreis.

Bloss, bloß schade, Georg, schade, dass der Onkel keine Tante gewesen ist. Eine Tante als Buchspenderin, eine generöse Tante, das würde dem Ganzen noch einen schönen Twist ins Zwie-Geschlechtliche geben!“

Ich nickte so beiläufig, wie ich es zustande brachte. Denn insgeheim hatte ich schon selber in die gleiche Richtung weitergedacht.

Mein Freund, der heute leider woanders sein muss, konnte nicht ahnen, dass mein Erinnern noch ein weiteres, ein noch früheres dankträchtiges Geschehnis - eines mit Tante! – aus der schwarzen Kunstledertasche der Vergangenheit schütteln konnte.

Noch zwo Minuten! Ich bin noch halbwegs gut in der Zeit!

Zweiter dankenswerter Versuch:

Schon bevor ich in der Christoph-von-Schmied Volksschule Augsburg/Bärenkeller lesen und schreiben lernte, war ich, der Vorschulknirps, im Besitz einiger Druckwerke. Es handelte sich um eine kleine Sammlung von Comic-Heften, die meisten im damals noch üblichen schmalen Querformat.

Keep it private, keep it small!

Also: Mein verflossenes Ich sitzt auf einer der Bänke vor dem Wohnblock, in dem ich aufgewachsen bin, und ich lese meiner Freundin Petra Duwe aus einem dieser Comics vor. Petra ist gleich mir noch nicht eingeschult. Kleinlich genau genommen, können wir beide noch gar nicht lesen.

Ich tue dies aber dennoch! Und als Vorleser habe ich ein Vorbild, eine Vorleserin, an der ich mich orientieren kann: Meine Lieblingstante, meine Tante Maja, ältere Schwester meiner Mutter, die mir alle Hefte, die ich bislang besaß, schon viele Male vorgelesen hatte. Sie musste dabei, das war mir wichtig, immer einen Zeigefinger, auf die Zeile oder auf die Sprechblase legen, deren Wortlaut sie gerade vortrug.

„Sehr gut, Georg!“, flüstert mein Freund. „Tante ist so viel besser als Onkel! Wie viele Tanten hattest Du eigentlich? Sechs! Wirklich sechs Tanten! Ich hab’ immer gespürt, dass du ein Tantenkind gewesen sein musst, Georg. Ach, was: dass du insgeheim immer noch ein rechter Tantenbub bist!

Aber entschuldige, ich hab’ dich unterbrochen! Du liest also, obwohl Du in einem streng empirischen Sinne noch gar nicht lesen kannst, deiner Freundin Petra Duwe aus einem Comic-Heft vor. Und weiter? Da muss jetzt noch etwas kommen! Irgendeine Pointe, irgendeine Art Schluss? Wir sind doch Schriftsteller!“

Mein Freund hatte natürlich recht!

Aber der Schluss der Szene ist nicht ganz leicht zu erzählen - allein schon, weil in ihm meine damalige Freundin Petra Duwe das Wort ergreift. Das heißt, ich muss am Preisverleihungsabend - also jetzt! - mit ihrer Stimme sprechen.

Petra Duwe sagt: „Guck mal, Georg! Guck mal, wer da kommt!“

Ich hebe meinen blonden, meinen sommersonnenblond gebleichten Schopf, verlasse ein Abenteuer des Dschungel-Comic-Helden Akim und sehe, dass meine Tante Maja in den schmalen Weg zwischen den Wohnblöcken eingefahren ist, den wir Kinder „die Runde“ nennen.

Bis heute kann ich meine Tante dabei kommen hören. Denn im Unterschied zu den Tanten der anderen Kinder ist sie Motorradfahrerin. Meine Tante Maja besaß, das beweist bis heute ein Foto, eine schwarze BMW, eine 250 Kubik-Einzylindermaschine. Meine Tante tuckert mit ihrer BMW im Schritt-Tempo auf uns zu. Und wir sehen, was sie da mit einem Strick auf ihrem Rücken festgebunden hat.

Petra meint: „DER ist für Dich! Der ist bestimmt für dich, Georg! Aber du musst mich auch damit fahren lassen. Mich! Als zweite! Mindestens eine Runde, gleich als zweite ...“

Wie ungeheuer unwahrscheinlich diese Erinnerung ist!

Erst viel später, erst während ich an einem Roman schreibe, der zur Hälfte auf dem Mars spielt, werde ich so weit sein, das, was meine Tante festgezurrt auf dem Rücken trägt, dasjenige, womit Petra - gleich als zweite - eine Runde fahren will, in eine angemessen fiktive Handlung hinüberrollen zu lassen.

„Georg! Sag jetzt nichts! Ich hab’s! Ich weiß, was Du als Nächstes schreiben musst: Tantenroman! Sechs Tanten hast Du gehabt und eine siebte darfst du meinetwegen erfinden. Aber ich hab’ dich schon wieder unterbrochen. Was war das, was Deine motorradfahrende Tante mit einer Strick auf dem Rücken festgebunden hatte?“

Wie ungeheuer unwahrscheinlich mir diese Erinnerung gerade heute Abend vorkommt!

Auch jetzt noch, wo ich gleich versuchen werde, das damals Gesehene – marsrot rotlackiert – so wie es war - erstmals zu beschreiben.

Die Zeit! Die Zeit läuft mir davon!

Keep it private, keep it small!

Trotz des eindringlichen Rats meines Freundes, der heute Abend vielleicht zu meinem Glück nicht hierher ins lcb kommen konnte, trotz guter Vorsätze bin ich am Überziehen und muss nun überhastet zum Schluss kommen: Über die Schulter meiner Tante ragt ein verchromter Lenker mit weißen Kunststoffgriffen. Blendend weiß wie die Handgriffe sind auch die Flanken der beiden kleinen, aber prächtig dicken, knallstramm aufgepumpten Räder.

Für das Hinterrad gibt es eine mit einem Hartgummibelag versehene Trittbremse, die Petra und ich allerdings bei den kommenden Tretrollerrunden so gut wie nie benutzen werden. Wenn bei flotter Fahrt abrupt gehalten werden muss – so wie jetzt gleich! - hüpft einfach auch der zweite Fuß vom Roller und das entlastete Fahrzeug schwenkt wunderbar schleudernd zur Seite.

So schließt sich ein Zeitkreis.

Ich danke dem Deutschen Literaturfonds und seiner Jury für den schönen Preis, ich danke Tante wie Onkel, und ich bedanke mich bei Ihnen für Ihre Geduld und für Ihre Aufmerksamkeit!


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