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Kranichsteiner Literaturpreis 2017 an Nico Bleutge

Am Freitag, dem 17. November 2017 wurde im Theater Moller Haus in Darmstadt der mit 20.000 Euro dotierte Kranichsteiner Literaturpreis an Nico Bleutge verliehen. Der 1972 in München geborene Lyriker lebt heute in Berlin.

Begründung der Jury

Nico Bleutge erhält den mit 20.000 Euro dotierten Kranichsteiner Literaturpreis 2017 für sein bisher vier Bände umfassendes lyrisches Werk unter besonderem Augenmerk auf die neueste Sammlung Nachts leuchten die Schiffe. Bleutge versteht sich auf eine poetische Erkundung vornehmlich von Licht und Wasser, auf die Verwandlung poetischer Romantik ins Gebrauchsformat von Industriezonen, Stückverkehr und Transportmonstern. Das Wetterleuchten auf globalen Wegen mischt sich mit Seelenechos aus der Kindheit, das Zitatgemurmel fremder Stimmen mit eindrücklichen eigenen Bildern. Nico Bleutge arbeitet an einer poetischen Übung im Lauschen und Memorieren, an einer modernen Erfahrungsseelenkunde, die sich auch der Technik und dem Gestaltwandel der sprachlichen Bilder öffnet.

Begründung der Jury, der Maike Albath, Wilfried F. Schoeller und Christine Wahl angehören

Laudatio auf Nico Bleutge von Hans Jürgen Balmes

Ein Handschuh aus Sprache

Für Nico Bleutge zur Verleihung des Kranichsteiner Literaturpreises

Was ist das größte gemeinsame Vielfache, das wir alle teilen? Von was haben wir alle das meiste gemeinsam? In der Küche, vielleicht je nach Ausstattungsgrad und gadget-Verliebtheit des Hausmanns, 150 Dinge, im Wohnzimmer noch einmal, im Job eher weniger, aber wie viele Tausende von Worten sind uns allen gemeinsam? Worte, Sätze, Fragmente? Die Sprache ist ein ständiger Luftzug, der uns alle durchweht, sie ist ein großer Speicher, ein gemeinsames Reservoir, das ständig in Bewegung bleibt.

Das mag man als gegeben hinnehmen, ist aber für einen Lyriker, der nichts anderes hat als die Sprache, ein großes Staunen – denn da ist so viel, und wir benutzen, seien wir ehrlich, nur den Rand vom Meer. Es ist diese Möglichkeit von Sprache, auf die sich ein Lyriker verlassen muss, verlassen kann – wenn er Auge hat und Ohr.

Mit Ohr und Auge am Wasser, denn hier, so hat man den Eindruck, wenn man seine Gedichtbände als Kapitel einer Entfaltung hintereinander liest, beginnt Nico Bleutge das eine große Gedicht, zu dem sich alle seine Gedichte aus allen bisher vier schmalen Bänden vereinen. Und zum Wasser kehrt Nico Bleutge – oder sein Gedicht - immer wieder zurück. Aber wie greift man nach dem Wasser? Mit der Hand. Doch will man das Wasser wirklich fassen, benutzt man dazu besser einen Handschuh aus Sprache. Das Bild – der Handschuh – scheint schon fast zu konturiert für die Transparenz der Gedichte Nico Bleutges, und doch scheint mir, dass er sich im Lauf seines Werkes eben einen solchen Handschuh erarbeitet hat. Ein Handschuh für das Schwebende seiner Gedichte, die Bilder lieben, die fast zum Gleichnis werden, die das Entstehen und Verwischen von Wahrnehmungen beschreiben, aber nur selten in einer Metapher erstarren. Vorsichtige Wahrnehmung, sensibles Betasten, einen bald festen Zugriff gehen bei Nico Bleutge einher mit einem Vertrauen auf die Sprache, die nicht nur Medium der Darstellung, sondern zum Instrument einer Erkundung wird.

klare konturen – so der Titel seines ersten Bandes von 2006 - beschreibt Landschaften, die sich im Kopf des Lesers zu einer einzigen zusammenschieben – eine Landschaft aus Dünen, Schranken, das Ineinander von Land und Wasser, das Sich-Heben des Fließens, das Einander-nicht-Loslassen von Ebbe und Flut, das Ineinander der Wellen. Die Landschaft selbst wird unter seinem Auge zu einer sensiblen Zone, die sich unter dem Blick der Sprache belebt:

die häuser wachsen aus dem fels und die stromkabel

hängen durch bis ins tal. alles scheint an der stimme zu haften

sträucher und schritte, die weinrote körnung der schwingen

klare konturen S. 40

Der Vers ist eine konzentrierte, aber nie forcierte Vorwärtsbewegung, alles in Kleinschrift, so dass das Auge der Leserin, des Lesers an keinem Großbuchstaben hängen bleibt, Namen, die etwas identifizieren, kommen selten vor, alles bleibt in einem Fluss, und es gibt Verse, die möchte man zu Leonard Cohens „Suzanne“ singen. Aber bald werden rhythmische Einheiten deutlicher gesetzt, um dann im Fortgang des Verses variiert zu werden, wodurch sich die Betonung verschieben kann und der Rhythmus ins Offene weist:

sträucher und schritte, die weinrote körnung der schwingen

Und so macht er etwas mit der Sprache in unseren Köpfen, auf das wir uns nur freuen können – er aktiviert sie mit einem sanften Leuchten, mit einem sirrenden Fluoreszieren, wie in dem zitierten Gedicht

kühlere schläfen, die wolken liegen schwer

auf den kuppen der berge, vom wasser radiert ist die landschaft

nichts als der sinkflug der vögel, ihr langsames gleiten hinab

an die mündung, wo die luft etwas mitteilt, von ferne

ebd.

Kommas skandieren den Vers, aber nur innen – am Versende hindert kein Satzzeichen das Fließen des Gedichts. Was in dem frühen Text von 2006, aus dem wir eben zitierten, nicht zu hören, nur zu sehen war, sind Kursivierungen: vom wasser radiert, wo die luft etwas mitteilt – es sind Zitate, so muss man annehmen, die hier das Mediale der Wahrnehmung betonen. Etwas wird dem Schauen und Wahrnehmen als eine zweite Ebene hinzugesetzt: die Landschaft ist nicht nur eine Flussmündung, sie erscheint auch wie eine Zeichnung, auf der das Wasser – Regen, Nebel, Niesel – herumradiert, so dass der Sinkflug der Vögel deutlicher hervortritt und zu hingetuschten Strichen wird, die auf etwas weisen, was man eher spüren, als mit dem Finger aufweisen kann: Der etwas weitere Raum über der Mündung evoziert Ferne. Und plötzlich stehen wir in einem chinesischen Landschaftsbild, einer Tusche, in dem das Ausgesparte zwischen den Bergen und Flüssen zu atmen scheint, zu etwas, „was die Luft mitteilt“. Das Gedicht, so scheint es, ist von Beginn an für Nico Bleutge ein transparentes, durchlässiges Gebilde, eine kaum merkliche atmosphärische Verschiebung, „ein andruck der luft / als zuckten die dinge innen auf“ (ebd S. 69).

In seinem ersten, den Exerzitien der Wahrnehmung gewidmeten Buch gibt Nico Bleutge die Quellen seiner kursiven Fügungen nicht preis. Er muss sie nicht preisgeben, wenn es sich um den Satz Kaspar Hausers handelt („ich möchte ein solcher werden, wie einmal ein anderer gewesen ist“ S. 53) oder eben um Satzfragmente wie die zitierten, die im Gefüge des Gedichts funktional eine zweite Ebene signalisieren – von der Wahrnehmung zu der Darstellung.

Anders schon im folgenden Band fallstreifen (2008), wo nicht nur auf als Zitate ausgewiesenes fremdes Textmaterial hingewiesen wird, sondern auch das Konzept der „Hintergrundstimmen“ eingeführt wird – Worte, Fügungen, deren Quellen vom Barock, der Aufklärung mit Brockes und Albrecht von Haller bis hin zu Emily Dickinson, T. S. Eliot, Tomas Venclova, Göran Sonnevie, Gunnar Ekelöf, Michael Hamburger, Inger Christensen und schließlich Jürgen Becker, Thomas Kling und Marcel Beyer reichen. Manche der Zitate lassen sich identifizieren, aber sie scheinen nicht auf Wiedererkennen angelegt. Sie scheinen keine in den Text eingelassene kostbare Intarsien zu sein, die der Kenner entschlüsseln soll, denn dazu sind die Formulierungen oft zu beiläufig, sondern es sind „Hintergrundstimmen“ – ein Murmeln aus mitgelesenen Texten, die sich in der Arbeit an dem Gedicht nicht mehr ausschalten ließen. Mir scheint es weniger um die Konstruktion einer Standleitung in die Literaturgeschichte zu gehen, als um die Gemeinschaft der Dichtenden: als ob sie alle als Zeugen eingeladen wären, um selbst ein paar Worte mitzusprechen. Nico Bleutge spricht auch von „Paten“, Lyrikern, die den Aufriss für ein Gedicht entwarfen, den er nun mit seinem Material, mit seinem Handschuh, nachzieht: zum Beispiel mit einem Gedicht über eine Libelle, die unmittelbar an den Dichter Thomas Kling erinnert, der die Wespe zu seinem Wappentier gemacht hat.

In seinem dritten Band, verdecktes gelände (2013), treibt er dieses Momente der „Anverwandlung“ im Sinne von Novalis weiter. Nun gibt es „Überschreibungen“, wo das Gedicht des anderen Autors zu einem Palimpsest wird, das durch den eigenen Text hindurchblitzt. Trakl und Stramm werden so zu Stichwortgebern von „rodung“, einem Gedicht, in dem die brutale Zerschlagung einer Demonstration in Istanbul dargestellt wird. Die Landschaft, die im ersten Band im Zentrum der Wahrnehmung und ihres sprachlichen Nachvollzugs stand, wird jetzt deutlich zum „Gelände“, zum Ineinander von freier Landschaft und durch den Menschen geprägter, vernutzter Umgebung: Gelände eben. So kommt Randlandschaft bei Jürgen Becker, aber vor allem auch in Thomas Klings Gedichten vor, deren strophische Gestalt den Versen Nico Bleutges ähnelt, aber deren expressionistische Konsonanten-Stauchung und Vokal-Elision für Bleutge keine Option ist. Wohl aber Klings Strategie, in seinen Gedichten eine Archäologie der Gegenwart zu betreiben, in dem er die unmittelbare Vergangenheit, die Weltkriege wie den Angriff auf die Twin Towers, sprachlich sondiert. Dadurch schuf Kling den so unverwechselbaren Hallraum seiner Gedichte und gab ihnen eine historische Tiefenschärfe.

In Nico Bleutges späteren Gedichten, in verdecktes gelände (2013) und nachts leuchten die schiffe (2016), geschieht etwas Ähnliches. Der Gleitflug des sprechenden Auges, das in den ersten Versen über die Landschaft strich und sie im sprachlichen Nachvollzug Gegenwart und zugleich Gedicht werden ließ, dieser Gleitflug ist nun oft von einem dumpfen Knall unterbrochen, mit dem sich die Geschichte der Kriege, die Epoche des Neuaufbaus sowie die vielen Stimmen der Verschollenen und Verschwundenen melden – Walter Kempowski sitzt am Morsegerät und sendet Zeichen. Hier – wie auch schon in dem Zyklus „drei stimmen“ aus fallstreifen - sind die kursiven Fügungen, die „Hintergundstimmen“, pompejianisch erstarrte Erinnerungskapseln, mit denen sich die Gewalt der Vergangenheit aus der Landschaft schält - so wie auf dem Feld beim Pflügen eine alte Granate . Wie dies bei der Erkundung des Tempelhofer Felds auf der Spur des Wortes „Muschelkalk“ geschieht, beschreibt Nico Bleutge in seiner poetologischen Selbstaussage, dem Text „Flechten“ – auf der aus Muschelkalk gefügten Fassade des Gebäudes findet er schließlich die Rötung, die durch den Brand des Flughafens in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs entstanden ist. „Und wieder die Idee: Jedes Ding ist durchlässig für seine Geschichte, wandert in den Kopf und öffnet sich der Einbildungskraft.“

Von der Gegenwart einer Tuschzeichnung zu dem historischen Palimpsest hat Nico Bleutge einen weiten Weg hinter sich gebracht, und doch gehört es zu den Wundern seiner Gedichte, dass sie immer noch zuerst etwas sichtbar und hörbar machen wollen, sie die Welt „erkunden durch ein waches schauen“ und sich in die Sprache wie „in die bewegung des wassers versenken“. Es sind bald die Dinge selbst, die sich in das Blickfeld drängen, bald ist es der Blick, der sie ertastet – getrieben von einem Hunger nach Sehen, einer Sehnsucht nach den Bewegungen, in denen das Leben geschieht und sich bezeugt – in dem Wiegen eines Grases, in dem Zurückschlagen einer Welle, im Flug eines Vogels, im Aufblitzen einer Erinnerung, in den Brandspuren der Geschichte, im Nachhall der „Hintergrundstimmen“, im Palimpsest verschollener Texte. Und all diese Momente sprechen eher mit einem Ich, als sie von einer Stimme aufgerufen werden. All jene Wahrnehmungen und Sprachgesten machen das wahrnehmende Ich zu einem dialogischen Resonanzraum ihrer Präsens – das ich, das sie sammelt und benennt, sie zeigt und ihnen Worte verleiht, ist kein Subjekt mit Namen, kein Agent mit Auftrag, keine laute Stimme: Diese unaufgeregten Gedichte, die sich so wenig darum zu kümmern scheinen, welche Position sie im zeitgenössischen lyrischen Diskurs einnehmen, haben ihre Position dort ganz selbstverständlich und schon seit langen gefunden und sind aus ihm nicht mehr wegzudenken.

Das eben zitierte „erkunden durch ein waches schauen“ und „sich in die bewegung des wassers versenken“ stammen aus dem Langgedicht „nachts leuchten die schiffe“, das Nico Bleutges bislang letzten Band von 2016 einleitet. Die Schiffe sind die Containerschiffe am Bosporus, die er während seines Istanbul-Stipendiums beobachtete und ihm zum Zeichen einer anderen Mobilität wurden: eines Welthandels, der alles Abenteuerliche verloren hat, aber sogleich eine unmittelbar globale Dimension besitzt, die ihn ebenso an die kosmologischen Rhapsodien Döblins in dessen Roman Berge Meere und Giganten denken lässt wie an Erinnerungen von einer Kindheit am Fluss. Plötzlich scheint die Zeit rückwärts zu laufen wie eine Welle, die ans Ufer schlägt und sich zurückzieht, ein Sich-Zurückträumen in vielleicht nur eingebildete Erinnerungen, die aber, weil sie von uns unwillkürlich ausgedacht werden, viel mehr über uns wissen, als unsere wirklichen Erinnerungen. Das alles geschieht in einer Bewegung, in einem Griff mit dem Handschuh aus Sprache. So viel „cognitive splendor“, sagte einmal bewundernd Harold Bloom einmal über einen doppelt so alten Dichter wie Nico Bleutge – so viel „kognitive Pracht“ aus Wahrnehmung und Erinnerung, Geschautem und Gedachtem, Gehörtem und Gespürtem, Gefühltem und Ertastetem, mit der wir uns in unserer Welt einrichten – mit Hilfe der Sprache, die durch uns alle gemeinsam zieht, und den Möglichkeiten, die uns Nico Bleutge zeigt.

Für dieses Geschenk wird Dir nun, lieber Nico Bleutge, der Kranichsteiner Literaturpreis 2017 verliehen. Jeder der Namensgeber der Dir verliehenen Preise, und es sind viele, hat Dir etwas Spezifisches hinterlassen: Hermann Lenz ein bescheidenes Augenzwinkern, Anna Seghers die Entschiedenheit, Wilhelm Lehmann die Aufmerksamkeit, Christian Wagner die Atome im Rosenstrauch, Erich Fried die Klarheit, Eichendorff das Lied in allen Dingen, und der Kranich die staunende Lakonie. Denn Kranich, „Tranan“, war auf der Schule der Spitzname von Tomas Tranströmer, und etwas von der Verwunderung, mit der man in seinen Gedichten aus dem Schlaf fällt, ist auch in Deinen Texten zu spüren: dieses große Staunen, wenn der Handschuh etwas fasst und die Stimme spricht.


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