Kranichsteiner Jugendliteratur-Stipendien 2018 an Manja Präkels und Flurin Jecker
Zum neunten Mal vergab der Deutsche Literaturfonds in Kooperation mit dem Arbeitskreis für Jugendliteratur (AKJ) die Kranichsteiner Jugendliteratur-Stipendien. Die zwei sechsmonatigen Stipendien in Höhe von jeweils 12.000 Euro richten sich an deutschsprachige Jugendbuchautoren.
Die Vergabe der Stipendien fand am 15. März 2018 um 14:00 Uhr auf der Leipziger Buchmesse im Saal 1 des Congress Centers statt.
erhält das Stipendium für sein Debüt Lanz (Nagel & Kimche), wird ausgezeichnet für ihren Roman Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß (Verbrecher Verlag).
Der Jury gehören Dr. Susanne Helene Becker (Vorsitzende des Arbeitskreises für Jugendliteratur), Birgit Müller-Bardorff (Vorsitzende der Kritikerjury zum Deutschen Jugendliteraturpreis) und Dr. Michael Schmitt (3sat/Kulturzeit) an.
Dr. Michael Schmitt präsentierte die beiden Stipendiaten am Freitag, dem 16. März 2018, um 10.00 Uhr auf der Leipziger Buchmesse am 3sat-Messestand (Glashalle). Hier lässt sich das Video des Gesprächs aufrufen.
für Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß
wurde 1974 im brandenburgischen Zehdenick geboren. Ihre Heimat Brandenburg macht sie auch zum Schauplatz ihres Romans Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß. In diesem, so die Jury, „schildert sie die Umbrüche in den Jahren vor und nach der Wende von 1989/90 am Beispiel einer kleinen ostdeutschen Gemeinde nicht weit von Berlin. [...] Zunächst sieht der Leser eine recht überschaubare kleinstädtische Welt, in die die Umbrüche tief eingreifen, in der Zusammengehörigkeit aber noch gelebt wird. Mit der Auflösung der sozialistischen Gesellschaft und den draus folgenden Friktionen zerbricht diese Gemeinsamkeit, es entstehen Leerräume, in denen sich ‚Glatzen und Springerstiefelträger‘ breitmachen und den öffentlichen Raum terrorisieren.“ Die Jury hebt hervor: „ erzählt davon, aber sie stellt ihr Buch nicht in den Dienst schlichter Thesen. Ihr Roman verwandelt persönliche Erfahrung in die ‚dichte Beschreibung‘ der Prozesse in einem sich wandelnden gesellschaftlichen System.“
Begründung der Jury
Für eine ganze Generation, die Mitte der siebziger Jahre in der Deutschen Demokratischen Republik geboren wird, fallen Pubertät und Wende nach dem Fall der Mauer 1989/90 zusammen. Einen „doppelten Systemabsturz“ nennt die Musikerin, Journalistin und Schriftstellerin
das, und sie erzählt davon in einem Roman, der den Bogen von einer Kindheit in den Achtzigern bis in die Gegenwart spannt. Sie schildert Geschichte als individuelle und als kollektive Erfahrung, als einen Prozeß, der zu keinem Ende kommt. Das Erlebte wirkt weiter, auch wenn viele Jahre vergehen. Bei den einen als Angst, bei den anderen vielleicht als Erinnerung an wilde Zeiten, die als eine Art von Jugendsünden verbucht werden.Wer in
Buch die Widmung liest – für Ingo Ludwig und für Silvio Seydaack, die 1992 bzw. 2002 zu Opfern von rechtsradikalen Schlägern geworden sind, ahnt, welche Geschichten dieser Roman meint – wird aber von Roman über den Aufstieg rechter Gruppierungen und über Exzesse in der Nachwendezeit dennoch überrascht. Ihre Erzählerin klagt nicht an, sondern beschreibt, sie schildert einer kleinen Stadt in der Nähe von Berlin eine Gesellschaft, in der sich von jetzt auf gleich ein kollektiver Lebensentwurf auflöst und ein Vakuum hinterlässt, das sich zügig mit vielem füllt, was schon in der realsozialistischen Gesellschaft als ausgeblendetes, aber gärendes Potential von Protest, Rassismus und Gewalt vorhanden gewesen ist:Frustrationen, die in der kleinbürgerlichen Welt der Familien und dörflich-kleinstädtischen Strukturen bestanden haben, weil es auch in der sozialistischen Gesellschaft große Unterschiede gegeben hat. Rüde Gesten, etwa Rückgriffe auf Nazi-Embleme, die in der DDR die größtmögliche Provokation von Autoritäten darstellten, und die nach deren Sturz den öffentlichen Raum erobern und dort eine unerwartete Dynamik entfalten. Auftritte von Glatzenträgern und straff gescheitelten jungen Männern, die zu Idolen werden und das Straßenbild einer Kleinstadt dominieren.
„Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß“ heißt dieser Roman – und schon in diesem Titel ist das alles enthalten: Die Schnapskirschen waren das kindliche Vergnügen der Erzählerin und ihres Freundes Oliver bei Familienfeiern in den Jahren vor der Wende. „Hitler“ wird dann der „Kampfname“ dieses Freundes, als er sich nach der Wende zum Anführer einer Schlägerbande aufschwingt und sich in Drogengeschäften verstrickt – ehe er um ein paar Jahre später von stärkeren Konkurrenten aus dem Geschäft gedrängt wird zu werden, aber weiterhin zurückgezogen und heruntergekommen im Ort ein Zuhause hat.
Die Erzählerin erlebt vieles davon aus nächster Nähe mit – der Roman hat einen autobiographischen Kern –, aus der Schülerin wird eine junge Journalistin, die über die Entwicklungen berichtet und lange in der kleinen Stadt an der Havel wohnen bleibt, obwohl sie dort gefährdet ist. Irgendwann zieht sie dann doch weg, so wie die meisten ihrer Freunde, die nach Ausbildungsplätzen, nach Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und nach einem Auskommen suchen, aber nirgendwo festen Boden unter den Füssen finden.
Ihre innere Bindung an die Menschen – auch an Oliver, der sich „Hitler“ nennt – verliert und verleugnet sie darüber nie – und das macht die Glaubwürdigkeit dieses Romans aus, der alles sehr direkt und in einfachen Sätzen beschreibt; der kein Plädoyer gegen einen Menschen ist und auch nicht die Bebilderung steiler Thesen über die Folgen des Untergangs der DDR, der aber auch keinen Zweifekl daran lässt, dass nichts von dem entschuldbar ist, was nach 1989 vorgefallen ist. Ideologisch fundiert ist der Aufstieg dieser Rechten eher nicht, es geht um Menschen, die einem historischen Prozeß ziemlich hilflos ausgeliefert sind. Das Buch rekonstruiert die Erfahrungen, die von seinerzeit Betroffenen lange Jahre verdrängt worden sind. Und das betrifft die Demütigungen genauso wie die Untaten.
Von einer ganz anderen Art prekär zu leben, erzählt der junge Schweizer Schriftsteller
in seinem Romandebut. Er lässt seinen jungen Erzähler Lanz – es ist kein Zufall, dass „Lancelot“, der problematische Held der Artus-Tafelrunde für den Namen des Protagonisten den Paten abgibt –, sozusagen um sein Leben schreiben, lässt ihn von pubertären Nöten berichten, lässt ihn in einer präzise kalkulierten Wortkaskade das größtmögliche Versteckspiel in einem Medium betreiben, das eigentlich auf größtmögliche Öffentlichkeit zielt.für Lanz
Der Schweizer
erzählt in Lanz von dem gleichnamigen, 14-jährigen Jungen, der in einer Projektwoche ein Blog über ein persönliches Thema schreiben soll. Erst sträubt er sich, aber dann öffnet er sich rückhaltlos in einer Art Selbstgespräch. „Lanz spielt mit der Form: Aus dem Blog wird ein Blog über das Blogschreiben und über die altersgemäße Kunst, sich selbst unglücklich zu machen. Über das Selbstbild eines Jungen, der sich als ‚Nichts‘ fühlt. Über einen Halbwüchsigen, für den jedes Geschehen aufgeladen ist mit Erwartungen, und der, was misslingt, mit dem Wort 'lustig' kommentiert, weil er damit vielleicht souveräner wirkt, als er ist“, begründet die Jury und lobt den Autor, wie er „in seinem hochamüsantem Debüt regionale und alltagssprachliche Elemente zu einer fingierten Mündlichkeit verdichtet, die intensiver Ausdruck eines Schwebezustandes ist, bei dem von Moment zu Moment und von Satz zu Satz Schmerz in Freude und Abgeklärtheit in Kindlichkeit umschlagen können.“Begründung der Jury
Die pubertären Notlagen, um die es geht, gehören zur Grundausstattung jedes Vierzehnjährigen: Lanz fühlt sich als „Nichts“, noch nicht einmal als „Jungfrau“, denn er hat, und das liegt schon Jahre zurück, bislang nur seine kleine Cousine aufs Ohr geküsst. Wenn er gleichaltrige Mädchen kontaktieren will, dann antworten ihm allenfalls die, die er lieber nicht treffen möchte. Er fällt rüde Urteile über andere Menschen, er ist nicht verständnisvoll oder einfühlsam – er ist voll und ganz mit sich selbst beschäftigt, ein hormongesteuertes Nervenbündel und manchmal immer noch ein kleiner Junge, der von seiner Mutter ein Osternest erwartet, obwohl er nicht mehr an Ostern glaubt und mit seinen Freunden ausgiebig kifft.
Der Plot, in den
seinen Helden verwickelt, ist schnell erklärt: Lanz meldet sich im Rahmen einer Schulprojektwoche für einen Kurs, in dem jeder Schüler ein Blog verfassen soll. Er will dort aber nur hin, weil er gehört hat, dass das Mädchen, von dem er am meisten schwärmt, daran auch teilnehmen wird. Am ersten Tag ist sie jedoch nicht da, als sie dann doch auftaucht, entwickelt sich die Beziehung nicht so wie gewünscht, und aus dieser Frustration erwächst der Impuls für eine hochamüsante Spielart des Klagegesangs: Lanz hat am Bloggen eigentlich kein Interesse und will auch niemandem von sich erzählen. Also wählt er aus Protest gegen alles, was ihn quält, das Thema „Blog über das Blog-Schreiben“. Damit bringt er zunächst den verhaßten Klassenlehrer gegen sich auf und findet dann, als er einmal begonnen hat, seine Situation zu beschreiben, kein Ende mehr.Rückhaltlos legt er sein Innerstes offen, bemüht sich tapfer um Souveränität und Ironie in eigener Sache, was ihm aber nie gelingt – und weigert sich, irgendetwas davon im Kurs oder dem Lehrer gegenüber preiszugeben. Er ist der eifrigste Blog-Schreiber unter allen – aber er wendet sich nur an sich selbst, das Blog entsteht als Selbstgespräch und als ein erster Schritt zur Selbstbefreiung. Der Rahmen des Roman spielt mit der Form moderner Kommunikatinm und Selbstdarstellung, die einzelnen Einträge sind hochverdichtete Sprachkunst: eine perfekt rhythmisierte Mischung von alltagssprachlichen und regionalen, schweizerischen Einflüssen, reiner Klang auch da, wo dem Jungen sprachliche Fehlleistungen unterlaufen, weil er sein Lamento so frei in die Tasten fliessen lässt. Ausdruck einer pubertären Fähigkeit, sich selbst unglücklich zu machen.
Lanz denkt alles zu Schanden, weil er immer schon befürchtet, die eigenen Ziele und Wünsche von andern durchschaut und dann auch abgelehnt zu finden. Der Roman variiert souverän diese sich selbst bestätigenden Denkweisen, die nur im Kopf des Vierzehnjährigen Plausibilität beanspruchen können, weil er noch über wenig Lebenserfahrung verfügt, also auch nicht über Schutzfilter oder Abgeklärtheit. Lanz’ Monolog fingiert eine spontane Mündlichkeit, die Leser jedoch nicht mit Authentizität verwechseln sollten, und wird so zum intensiven Ausdruck eines Schwebezustandes, bei dem Schmerz und Freude, Kindlichkeit und Abgeklärtheit untrennbar vermischt und in jedem Satz und in jedem Moment spürbar sind.
"Wir gratulieren Manja Präkels und Flurin Jecker zu den ungewöhnlichen Büchern, mit denen sie die Leser beschenkt haben. Wir danken ihnen dafür und hoffen auf mehr."
Laudatio von Michael Schmitt, 8. April 2018.
Kranichsteiner Jugendliteratur-Stipendien
Die Kranichsteiner Jugendliteratur-Stipendien werden seit 2010 vergeben und sind gedacht für Autoren von Jugendbüchern, die bereits einen ersten überzeugenden Titel veröffentlicht haben und eine positive literarische Entwicklung erkennen lassen, sich aber bisher keine starke Marktposition erarbeiten konnten. Ihnen soll die Möglichkeit gegeben werden, ein nächstes Buchprojekt unabhängig von den Anforderungen des Marktes und unter finanziell gesicherten Lebensumständen verwirklichen zu können. Sowohl der Deutsche Literaturfonds als auch der AKJ möchten damit die aktuelle deutschsprachige Jugendliteratur fördern und unterstützen.