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Großer Preis des Deutschen Literaturfonds 2021 an Ulrike Draesner

Den mit 50.000 Euro dotierten „Großen Preis des Deutschen Literaturfonds“ erhält in diesem Jahr Ulrike Draesner. Sie wurde von der Jury, bestehend aus Birte Lipinski, Manuela Reichart und Hans Thill, aus dem Kreis der bisher durch den Deutschen Literaturfonds geförderten Stipendiaten und Stipendiatinnen gewählt.

Der Preis wurde am 11. Oktober 2021 im Literaturhaus Leipzig überreicht.

Der Große Preis des Deutschen Literaturfonds

Der Deutsche Literaturfonds, der sich seit 1980 der Förderung deutschsprachiger Gegenwartsliteratur widmet, hatte 2020 sein 40-jähriges Jubiläum zum Anlass genommen, erstmals den mit 50.000 Euro dotierten Großen Preis des Deutschen Literaturfonds zu vergeben. Der Preis geht hervor aus dem zuletzt mit 30.000 Euro dotierten Kranichsteiner Literaturpreis, der zwischen 1983 und 2019 jährlich durch den Deutschen Literaturfonds in Darmstadt verliehen wurde.

Begründung der Jury

Ulrike Draesner ist in vielen literarischen Gattungen zuhause und hat für jede eine eigene Form und Sprache entwickelt. Seit ihrem ersten Gedichtband Gedächtnisschleifen hat die 1962 geborene Autorin ein breites Werk an wortgewaltiger Lyrik, an Erzählungen und Romanen, pointierten Essays, aber auch Reisebänden und Übersetzungen veröffentlicht und erweist sich in all ihren Büchern als Meisterin der dichten Gedankenschilderung und als genaue Beobachterin der Gegenwart. Mit wieviel Empathie sie das Innenleben ihrer Figuren entwickelt und zugleich jene sachte Distanz wahrt, die es erlaubt, Widersprüche und Rätselhaftes zu offenbaren, hat zuletzt der Künstlerroman Schwitters gezeigt. Die Nöte des Künstlers im Exil und die Beziehung zu seiner Frau schildert Ulrike Draesner mit größter Eindringlichkeit und macht so Schwitters Welt lebendig. Wie in den vorherigen Romanen (etwa Kanalschwimmer und Sieben Sprünge vom Rand der Welt) verleiht sie ihren Figuren eine eigene Stimme, einen eigenen Sprachduktus, und führt uns kunstfertig durch fremde Gedankengänge. Sie schafft es, die Wunden ihrer Figuren und der Welt offen zu legen, ohne in Hoffnungslosigkeit zu versinken. Ulrike Draesner konfrontiert uns mit Unvereinbarem und Schmerz. Sie experimentiert mit literarischen Formen und fordert die Sprache heraus, ohne ihr Publikum dabei aus den Augen zu verlieren. Ihre Lust am Erzählen und an der Wirkungskraft des Wortes ist in jedem Band zu spüren – gleich ob Prosa, Lyrik oder Essay – und sie ist so ansteckend, dass ihr die Jury den Großen Preis des Deutschen Literaturfonds 2021 zuspricht.

Begründung der Jury, der Birte Lipinski, Manuela Reichart und Hans Thill angehören

Laudatio auf Ulrike Draesner von Michael Braun

Lippkarü gegen Kehlenangst

Liebe Freundinnen und Freunde der Poesie, verehrte Jury, liebe Ulrike,

wie dürfen wir uns – kulturgeschichtlich - den Ursprung des Poetischen vorstellen? Vielleicht stimmt es ja, was der Mythos erzählt: Es existiert ein Riss in der Welt, eine aufklaffende Erdspalte, aus der die poetische Substanz, der Geist, der lyrische Atemhauch, das Pneuma nach oben steigt. Das poetische Phantasma dafür liefert die mythische Gestalt der Pythia, die Orakelpriesterin im Tempel des Apollon in Delphi. Auf vielen bildlichen Darstellungen sehen wir Pythia auf einem Dreifuß sitzen, über einer Erdspalte, aus der berauschende, inspirierende Dämpfe strömen. Das galt als die Voraussetzung für ihre Weissagungen. In einem frühen Gedicht von Ulrike Draesner wird diese mythische Urszene in drastischer Vergegenwärtigung profaniert und in ihr Gegenteil verkehrt. Im Gedicht „Sekret“ wird zunächst eine unangenehme medizinische Maßnahme aufgerufen. Dann assoziiert das lyrische Subjekt die Situation eines Ich, dem jede Weissagung abhanden kommt – und dem nur noch das „Pressen“ bleibt, das „Drüsenpressen“, wie es im folgenden heißt – oder in einem benachbarten Gedicht aus einem ähnlichen Zusammenhang – das „Musenpressen“: „- da habe ich plötzlich/ auf dem Pythiastuhl habe kein Wort mehr heraus-/ bringen, plötzlich den Mund nicht bewegen können,/ mir war, ich würde nie mehr, solche Kehlenangst/ schnürte mir den Speichel, darunter meine zuckenden,/ rasenden Muskeln, jemand sagte: vielleicht Drüsenpressen…“

Auf dem Pythiastuhl kommt es nicht zur erlösenden Exaltation, kommt es nicht zum trancehaften Sprechen, sondern etwas stockt, gerät aus der Fassung, blockiert den ganzen Organismus. Die „Kehlenangst“ unterbindet das Sprechen. Der Körper gerät außer Kontrolle. Wo die Verbindung zwischen dem Körper, dem Atem und der Stimme unterbrochen wird, da kann es nicht zur Artikulation, zur Lautbildung oder zum Sprechen kommen. „Als Rhythmus, Bild und Wort ist das Gedicht der Extrakt eines körperlichen Zustandes“, hat Ulrike Draesner in einem Essay geschrieben – und auch im Gedicht Sekret erweist sich Poesie als etwas, was aus dem Körper kommt. Die Poesie entweicht auf unvorhergesehenem Weg dem Körper, nämlich als Sekretion aus dem Schädel:

„geheime Sekrete schwebten mir aus allen allen/ Schädelöffnungen, dampften zu den Ohren,/ Nasenlöchern, Augen, den, ja, wieder geöffneten / Fontanellen heraus – betäubende Buchstabentiere,/ / vergleiche Holzschnitt, um 1450, über Hautgrund abgebildetes Entweichen,/ sogenanntes schönes Durcheinander-/ kriechen von Seelen.“

Die Seelen, sie entweichen auf mittelalterlichen Holzschnitten dem Körper und werden schon von einem Engel erwartet. Bei Ulrike Draesner verlassen Buchstabentiere den Körper, aus allen Schädelöffnungen strömen die Sekrete heraus…„Sekrete“, die bei dieser Dichterin immer aus einer intertextuellen Wanderung unterwegs sind zwischen dem Deutschen und dem Englischen, „Sekrete“ sind gleich „secret“, geheim und im Geheimnis. Aus dem Riss in der Welt, so der Mythos, entsteigt das Pneuma. Aus allen Schädelöffnungen entweichen in diesem Gedicht die Sekrete. Die Poesie kommt aus dem Körper und geht wieder in ihn zurück.

Gedichte, so Ulrike Draesner in ihrer Münchner Rede zur Poesie, „entstehen, wo Körper und Sprache auseinandertreten, wo willentliches Sprechen.. endet, übergeht in Laut“. Der „Extrakt eines körperlichen Zustandes“, wie er im poetischen Text manifest wird, kann aber nicht durch „simple Story-Wirklichkeit“ sichtbar gemacht werden, sondern nur durch „Störungen“ – nämlich – so die Dichterin - durch Störungen der semantischen Ordnung, durch „den krakeelenden oder tanzenden oder hüpfenden Schritt“ der Gedicht-Zeile.

Und dieses Krakeelen, Tanzen und Hüpfen der Verssprache finden wir bei Ulrike Draesner von Beginn an, von ihrem Debütbuch Gedächtnisschleifen bis zu ihren jüngsten Sammlungen, der großen paläo-anthropologischen Schöpfungserzählung Doggerland und dem dem 2022 erscheinenden Band hell & hörig. Als 1995 Gedächtnisschleifen erschien, waren zwar einige Rezensenten zur Stelle, um der neuen poetessa Begabung zu bescheinigen, aber die Begeisterung war erstmal nur halblaut. Kaum jemand registrierte, dass hier eine junge Poetin, die Tochter einer bayerisch-schlesischen Familie aus München, bereits auf Augenhöhe mit den Besten ihres Fachs war. Schauen wir uns ein jüngeres Beispiel ihres so überaus reichen, in viele Sprachbesessenheiten sich verzweigenden Gedichtwerks an.

In ihrem Gedichtbuch Subsong von 2014 entdeckt die Dichterin das „Lied unter dem Lied“, den „Subsong“. Darin kommt es zur Konsonantenballung und zur Verhärtung der Wörter, zu Zischlauten und zum Klangverlust, zum Gestotter. Der Sprachraum des „Subsongs“ lebt von phonetischen und semantischen Verschiebungen. Von Konsonanten-Kombinatorik, die sich dann öffnet und weitet ins Vokalische hinein. Etwa so: „brchnchsp / brchnchspr / brchnchsprch / brach nicht sprüh / bauch nicht früh / brauch nicht sprech / lippkarü! lippkarü!“ Es ist eine Vogelsprache, die hier imaginiert und transformiert wird in Menschensprache. Das junge Amselweibchen, der Zaunkönig, der Hausrotschwanz oder auch der Hornrabe begegnen uns in „lippkarü!“.

Das Ausagieren von „lippkarü“ ist aufgehobene, durchbrochene „Kehlenangst“. Und die „Buchstabentiere“ sind da, zersetzen die Ordnungen und fügen sich in einer eigenen Kombinatorik zu einem neuen poetischen System. Diese Gedichte von Ulrike Draesner mit ihren Körpersprachlichkeiten realisieren mit ihren eigensinnigen „Buchstabentieren“ konsequent auch eine „Sprachzungenverkettung“, wie es im Gedicht „monopol“ heißt, das Anverwandeln und Konterkarieren wahlverwandter und seelenverwandter Dichterstimmen.

Die Sprache des Körpers manifestiert sich auch in ihrer Prosa als das sorgfältige wie konsequente Dekonstruieren von Geschlechtergrenzen. Bereits ihr erstes Gedichtbuch enthielt – in Anspielung auf Friederike Mayröcker – ein „hermaphroditisches Proëm“. Und das Infragestellen von geschlechtlicher Binarität vollzog dann auch bereits 2001 ihr Roman „Mitgift“, der mit seiner entschlossenen Thematisierung von Intersexualität und der Auflösung von Heteronormativität seiner Zeit um mindestens zwanzig Jahre voraus war.

Die Verflüssigung von Geschlechtergrenzen wie auch von Sprachgrenzen ist in vielen weiteren Büchern Programm. In der Auflösung der Sprachgrenzen geht Ulrike Draesner in ihrem Roman Schwitters sehr weit. Denn es geht ja hier nicht nur um den Umstand, dass die Dichterin den Roman von Kurt Schwitters, der im Exilland England sich in den englischen Künstler „Kört Switters“ verwandelte, zuerst auf Englisch und dann später erst auf deutsch geschrieben hat, in zwei unterschiedlichen Handlungslinien. Es geht hier – wie auch im Gedicht-Projekt Doggerland darum, dass sich das schreibende Subjekt in zwei Sprachen verzweigt und die Grenzen dazwischen immer mehr verwischt werden.

In ihrem aktuellen Gedichtbuch Doggerland haben wir es mit einer poetischen Schöpfungs- und Erdgeschichte zu tun, die auch als Sprachgeschichte gelesen werden kann. Durch unentwegte Mischungen, Stauchungen, Reibungen und Überlagerungen der Vokabularien aus dem Deutschen und dem Englischen, durch Hin- und Her-Bewegen zwischen ihren Wortfeldern und ihren vokabulären Nachbarschaften. Wir werden mit hoher sinnlicher Sprachkraft hineingezogen in prähistorische Grenzsituationen der Hominisation – in jene wilden Urszenen, an denen sich der Mensch herausschält aus seinen Primaten-Vorfahren und sich die Natur zu unterwerfen beginnt. Es wird aber noch eine ganze Weile dauern, bis wir den überwältigenden Sprachen- und Bilder-Reichtum des Doggerland-Poems ausgelotet haben.

Bei aller bisherigen Anerkennung, die das polylinguale, Sprach- und Geschlechtergrenzen überschreitende Werk von Ulrike Draesner bislang erhalten hat, bleibt komplett unverständlich, warum ihr herausragendes Opus magnum, also der 2014 publizierte Roman Sieben Sprünge am Rand der Welt bis heute noch nicht als eines der elementarsten Bücher des 21. Jahrhunderts gewürdigt wurde. Dieser Familien-, Entwicklungs- und Generationenroman, der über elf Kapitel und durch achtzig Jahre deutsche Geschichte führt, ist wahrscheinlich der bedeutendste Roman über die Verfasstheit einer Generation, die zwischen 1939 und 1945 traumatische Erfahrungen gemacht hat. Erfahrungen von Flucht und Vertreibung wie im Falle der hier agierenden Familie Grolmann, die in einer eiskalten Januarnacht mit durchgeweichten Pappkoffern aus Breslau in Richtung Bayern aufbricht. Die „transgenerationelle Traumatisierung“ der Entwurzelten und Vertriebenen, die hier zum Thema wird, ist wohl nirgendwo so eindringlich und vielstimmig dargestellt worden wie in diesem Buch. So ist es nicht nur ein Akt literaturhistorischer Gerechtigkeit, sondern vielmehr absolut zwingend, wenn wir den Großen Preis des Deutschen Literaturfonds in die Hände einer Sprachkünstlerin, Übersetzerin, Epikerin und Dichterin geben, die mit ihrer „Sprachzungenverkettung“ die Grenzen der Poesie und die Urszenen der Zeitgeschichte ausgelotet hat. Herzlichen Glückwunsch, liebe Ulrike, zu diesem hochverdienten Preis!


Preisrede von Ulrike Draesner

Wir werden Sehnsucht haben. Nach uns selbst

Ich danke Ihnen für das Wort. Ich danke Ihnen mit besonderer Freude für den Großen und großartigen Preis des Deutschen Literaturfonds 2021. Ich danke Ihnen für die Anerkennung und Unterstützung meiner seit bald 30 Jahren fortgesetzten, suchenden, literarischen Arbeit. Suchend – als kontinuierlicher Schreib-Erfindungsprozess, als ein Sprach-Gang, gespeist von Wirklichkeiten, diversen Sprachen, Beobachtungen, gespeist von den Beugungen und Kniefällen der Phantasie, Übungen in Empathie, Konstellationen des Komischen. Gesprochen gegen und mit, gesprochen beinhart und luftig, diszipliniert und bildlich, präzise und in den Zwischenschichten des Realen, und von jeher begleitet von dem Nachdenken über Wörter, dem Nachdenken mit Wörtern – über die Bedingungen ihres Erscheinens, ihres Gebrauchs. Über Sprechbarkeit also, die Ränder des Schweigens, die zugigen, windigen, verlotterten, herrlichen Grenzräume des Liminalen. eingerichtet im Zwischen, daraus gehört, rhythmisch-somatisch gefasst, verpflichtet einer Kategorie, die aufs Erste anachronistisch, wenn nicht absurd wirken mag. Doch wir werden sie brauchen: Wahrhaftigkeit. Seltsam bis paradox im Bereich der Fiktion, zu dem Gedichte auf andere Weise gehören als Prosa, doch für diesen Abend schere ich sie über den einen Kamm, verfangen in den Zinken dessen, was mich dieser Tage bewegt. Zinken: die Stacheln, das Herausragende, und das Gefälschte – die Nase, der Knick, ein Wort voller Widersprüche – ein Nachdenkwort.

Der Gedanke, den ich ihnen vorstellen möchte, erwächst aus Fragen nach der Zukunft des literarischen Schreibens.

Als Autor:in schreibt man in Zukunft hinein. Erfindet in sie hinein.

Life writing. Space Writing. Place Writing. Nature Writing.

Was das alles ist? Woher kommt diese Writing-Inflation?

Eine Modewelle, die man schadlos ignorieren darf? Dafür hält die Bewegung zu Biografien, zu Erlebtem, zum Personal Essay, dem Lebensbericht, der Coming-off-Story zu lange schon an. Hinter Erfolgen dieser Art steckt ein Bedürfnis, hinter einem Bedürfnis eine Neugier – ein Erkenntnisinteresse – und eine Angst oder Sorge. Oft: eine Bedrängung. Vielleicht sogar eine Not.

Die Not des Authentischen

Alles Schreiben entsteht aus dem Lebensgrund, doch vermischen sich in dem sogenannten Schreiben der Natur und des Lebens die Momente des Gegenstandes und des Persönlichen auf eigene Weise. Beide Schreibweisen fordern die Wahrnehmungsfähigkeit und die Kraft der Spracherfindung der Autorin in besonders hohem Maß heraus.

Führen wir uns die Diskussion um das Anthropozän vor Augen – mit Donna Haraways Konzept der Kritter oder ihrem Bild des Fadenspiels, das gewoben und weitergegeben werden muss, tritt uns allenthalben entgegen, dass wir über neue, vielfältige Arten von Gemeinsamkeit und Gemeinschaftlichkeit nachdenken sollten, über unseren Einfluss auf alles Nachbarliche – kurz- und langfristig –, über unsere Verbundenheiten. Wir sind Holobionten, von zahlreichen Wesen besiedelt. Autonom sind wir nicht, wenngleich die Philosophien und die Imaginationssysteme der westlicheren Welt uns dies seit Jahrhunderten vorspielen. Man vergisst die Abhängigkeit von anderen gern, eine willing suspension of disbelief, aus Romanautorinnensicht eine höchst schätzenswerte Eigenschaft unserer Sapiensgattung. Doch Nachteile zeitigt sie ebenfalls: Geprägt von den Individualismusphantasien diverser Epochen und der marktwirtschaftlichen Expansionsökonomie, die ihnen aufsitzt wie die Seepocke dem Blauwal, neigen wir zu Ich-Größe-Wahn ohne Sinn. Wenn wir damit ernst machen wollen, vernetzter, spinnenartiger, chthuluzänischer zu denken, dann muss das auch für unsere Vernetzungen untereinander als diejenigen gelten, die sich im Schreiben bewegen. Weiterhin.

W-e-i-t-e-r-hin.

Mutationszwang im Denken

Mich treibt im Blick auf die literarische Zukunft die Frage nach diesem „Gemeinsam“ und seinen möglichen zukünftigen Bedeutungen um. Obwohl ich seit Jahren dagegen anarbeite, denke ich noch immer, wenn der Begriff Natur fällt, diese zunächst als „Gegenüber“, „Nichtich“ oder doch wenigstens als „Anders-als-ich“.

Seit Corona wissen wir breitflächig-unbequem, dass Viren nicht einfach so mutieren, sondern dass sie es in bestimmte Richtungen tun, nämlich unter dem Druck, der auf sie ausgeübt wird. Es regiert Mutationszwang: noch aggressiver, noch ansteckender (leichter) werden etc.

Auch wir werden unter Mutationszwang geraten, was die Begriffe Natur und Leben angeht. Wir selbst erzeugen, was diesen Druck erzeugen wird. Im Mai 2020 stellte ein wissenschaftliches Artifical-Intelligence-Labor aus San Francisco seine neueste Erfindung vor, GPT-3. Hierbei handelt es sich um einen general pretrained transformer, also ein rekursives language model, das deep learning benutzt, um menschenhaften Sprachtext zu produzieren. Sprachmodell ist statistisch gemeint: es bezeichnet Wahrscheinlichkeitsverteilungen über Wortfolgen. Derartige Sprachmodelle arbeiten mit künstlichen neuronalen Netzwerken, die sich an biologischen Modellen orientieren. In seiner gesamten Pracht (full version) verfügt GPT-3 über 175 Milliarden Parameter. Ab Juli letzten Jahres, wir waren weiterhin mit Corona beschäftigt, wurde GPT-3 probeweise eingesetzt. Vor seiner Veröffentlichung hieß das größte Sprachverarbeitungssystem Microsoft Turing NLG (Stand Februar 2020), das 17 Milliarden Parameter benutzte. Das ist weniger als ein Zehntel dessen, womit GPT-3, inzwischen von Microsoft gekauft, arbeitet. Pretrained bedeutet, dass diese wandler (= transformer) mit einem immensen Text- und Sprachenschatz vorgefüttert werden. Sie übersetzen also auch mühelos. Vor allem aber betreiben sie höchsteffiziente Mimikry. Gib ein: Schreibe mit einen Heinrich Heine Text zum Simsen – sofort hast du ihn. Stilgerecht, fehlerfrei, witzig, bissig, Heine at his best, ins 19. Jahrhundert eingepasst – und springt mühelos darüber hinaus.

Zeit? Ich bitte Sie.

Ort? Ich bitte Sie.

GPT-3 verarbeitet Sprache. Milliarden von Operationen. Mimikry reicht als Wort nicht hin. GPT-3 ist plastisch. Sprich: schöpfend. Hypermobil, hyperschnell, hypertreffsicher. Unterhaltungsliteratur – in zehn Jahren? In 15? Schon jetzt erzählen mir Kolleg:innen aus diesem Bereich, dass ihnen in Verlagen gesagt wird: Eure Texte schreibt bald die Maschine.

Den gesamten Roman im Stil von XY, mit Plotpoints so und so, Sprache X, fertig.

Und wir?

Seit über 20 Jahren erleben wir, wie im gesamten Kunstbereich Authentizität an Wichtigkeit gewinnt. Authentizität wird als Wert an sich gehandelt. Lebensverankerung, Erzählen aus dem persönlichen Erleben, nicht „erfinden“. Hierbei handelt es sich nicht um Zufall, um Sensationssucht, um unterkomplexe Homestory-Abhängigkeit gepaart mit schlecht verhohlenem Voyeurismus, nein: hier wirft ein Phänomen seinen Schatten voraus. Schon die Authentizitätsbedürfnisse der letzten Dezennien haben sich im Kielwasser eines massiven medialen Wandels ergeben. Wer hat was verfasst und wie ist es zu verantworten.

Authentizitätsbedürfnis, über alles gestellt, führt zu Verformungen, einer falsch verstehenden Zensur. Falsch verstanden ist alles, wenn man meint, einzig eine Person, die eine Flucht erlebt hat, dürfe über Geflüchtete schreiben. Schreiben dürften dann auch nur Männer über Männer, nur Weiße über Weiße etc. Zu was für Verrenkungen der Identifizierung das führen würde, möchte ich mir erst gar nicht ausmalen.

Erlebte Stimmlichkeit

Vor allem aber wird, wenn mal glaubt, dass Authentizität sich nur inhaltlich herstellt, der Kern des Fiktiven verfehlt.

Authentizität stellt sich nicht einmal vorrangig inhaltlich her.
Sie stellt sich trans-inhaltlich her.

Translatorisch.

Damit meine ich: In der Literatur zählt eine andere Art von Authentizität. Wir müssen uns dringend dafür einsetzen, sie zu vermitteln. Sie ist packend, wunderschön, die Verkörperung der menschlichen Fähigkeit Empathie. Ich sage auch: Phantasie. Stimmenfang. Aufmerksamkeit. Vielheit des Daseins. Und ich nenne sie: die Authentizität der tatsächlichen Sprache – der erlebten, durchlebten, körperlich grundierten Sprache.

Aus Teilhabe an dem kollektiven, beweglichen, lebendigen Wesen Sprache. Sprache ist ein grundkörperliches Phänomen: als Klang, als Silbe, als Zungenbewegung, Brustbewegung, als Schallwelle am Ohr, und noch als Schrift, wenn wir sie tippen, sie lesen, sie hören.

Literatur ist der hortus apertus des Nach-der-Wirklichkeit-Erfundenen. Sie übersteigt-unterläuft diese Wirklichkeit. Sie zeigt sie, indem „Wirklichkeit“ übertrieben, verfälscht, geknetet, moduliert, nach ihrem eigenen Anspruch erfunden und somit unbedingt in ihren menschengerechten Plural übersetzt wird.

Auf diese Weise entsteht Reichtum.

Authentisch ist nicht Mimesis. Authentisch – das, worauf das Bedürfnis einer sich ständig medial differenzierenden und um Maschinen ergänzenden Gesellschaft richtet, die zunehmend auch auf Wortprodukte von Maschinen stoßen wird, authentisch ist: geschrieben mit einem Körper, weich warm durchblutet, stimmlich und sterblich, der erlebt und gelernt hat, der Welten, Begegnungen, Zeiten und Räume durch sich hindurch erfährt und verwandelt.

Geschichten der warmen weichen Wesen

Es werden sich zwei brands entwickeln. Gezielt wähle ich dieses Wort: brands – Brennungen, Einbrennungen, körperliche Markierungen der Herkunft: machine-made story. Und wo/man-made story. Wir werden sie kaum oder gar nicht mehr voneinander unterscheiden können, wenn GPT-4 oder GPT-5 oder 500 sie schreibt.

Doch wir werden ein Gedicht, eine Erzählung, einen Essay, wo/man-made oder machine-made, auf andere Art und Weise lesen, was ihre oder seine Wahrheiten und Wirklichkeiten angeht.

Was uns an-geht.

Wir werden Sehnsucht haben. Nach uns selbst.

Nach Geschichten, die ein warmes weiches Wesen mit einem vergänglichen – natürlichen – Körper zu verantworten hat. Ein Wesen, das aus einer Lebenserfahrung antwortet, die auch leiblich ist. Aus gemachten Erfahrungen, die nicht recycelt werden (genauer: in geringerem Maß), sondern körperlich gemacht und eigenkörperlich umgesetzt in Sprache und das, was man einst „Geist“ nannte und was als Konzept vielleicht ebenso einer Wiederbelebung bedarf.

Ich sage nicht genuin, sage nicht originär. Wir wissen, dass das hypothetische Begriffe sind. Aber: durch einen menschlichen, natürlichen Körper prozessiert. Das lateinische cedere bedeutet verwandeln, übergehen. Passiert werden: durch das System bewegt, dabei zerlegt und neu zusammengesetzt.

Verdaut.

Es ist durch einen Körper gelaufen.

Langfristig werden wir Natur und uns gegenüber einer dritten Größe denken. Werden mit Schärfe uns Als-Natur erfahren. Ich lese das Ende des langen Gedichtes doggerland vor, das dieser Tage erscheint. Es handelt im Pleistozän und zu Beginn den Holozäns, es handelt von Leben in einer sich erwärmenden Welt. Das letzte Kapitel heißt post-drown.

so-glitch driftet

nach art des gedächtnisses

der kontinent

forging (gabelnd

garbling) auf ein fenster zu : the wind’s

eye und du (blur) im kahlen graphischen

baum (blurb) begreifst wie ich dich

pointe (full print full stoop) :

anders

als heischende chicks sind süß die klicks

dort unten im feldgras nicht zu

verstehen. der groschen fällt (im

schädel wert der chip sein geld)

fend off : ihre münder

öffnen sich und sprechen natu :

rally bauen wir dir dies nach. als erstes

die dronte (dead as a dodo? – such

crap) den säbelzahntiger die

erdfresser don’t

you worry (tu nicht wirr)

du aus ein bisschen

matter gemacht denn so sagen

sie rendern aus diesem splatter

sagen sie

sagen – aus : uns


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