Paul-Celan-Preis 2021 an Andrea Spingler
Der vom Deutschen Literaturfonds alljährlich vergebene Paul-Celan-Preis für herausragende Übersetzungen ins Deutsche geht in diesem Jahr an
. Der Preis ist mit 20.000 Euro dotiert.Der Preis wurde am 11. Oktober 2021 im Literaturhaus Leipzig überreicht.
Begründung der Jury
Die in Deutschland und Frankreich lebende Übersetzerin wird für ihr umfangreiches Gesamtwerk von Übersetzungen aus dem Französischen ausgezeichnet. Zu ihren Übertragungen gehören Werke von Marguerite Duras, André Gide, Alain Robbe-Grillet, Jean-Paul Sartre, Albert Camus, Patrick Modiano sowie eine Neuübersetzung von Alexandre Dumas‘ Kameliendame. Besonders würdigt die Jury ihre Übersetzung des 2020 erschienenen Romans Die Annonce von Marie-Hélène Lafon, in der
mit beeindruckendem stilistischen Gespür die schwebende Erzählperspektive und die mit indirekter und erlebter Rede gespickten rhythmischen Satzkaskaden des Romans nachbildet, ohne die eigenwillige Syntax zu glätten. Mit Präzision und Sprachlust macht sie die beklemmende Fremdheit zwischen den Figuren einerseits und die ambivalente Sinnlichkeit von Natur und Landleben andererseits auch im Deutschen in jeder Zeile spürbar.Laudatio auf
von Heike Ochs„Entschiedene Praxis“
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Andrea,
„Fremde Nähe“, das ist die Quintessenz eines Konzepts – man könnte auch sagen: Credos –, nach dem Paul Celan aus gleich sieben Sprachen übersetzte. Zu Lebzeiten durchaus mit dem Vorwurf einer „celanischen Manier“ seiner Übersetzungen konfrontiert, avancierte er doch schon bald nach seinem Tod zum Klassiker dieses Metiers. Die Sprache überhaupt, das Verhältnis der Sprachen zueinander, der Abgrund zwischen den Sprachen – das war es, was Celan beschäftigte und worin eine Nähe zu Heidegger, trotz seines insgesamt problematischen Verhältnisses zu ihm, sichtbar wird. Um es mit dessen ikonischen, immer wieder zitierten Worten aus den Heraklit-Vorlesungen von 1943 zu sagen: „Hier wird das Übersetzen zu einem Übersetzen an das andere Ufer, das kaum bekannt ist und jenseits eines breiten Stroms liegt. Da gibt es leicht eine Irrfahrt und zumeist endet sie mit einem Schiffbruch.“
Nun hat Celan – neben wenigen Ausflügen ins prosaische Gebiet – vor allem Lyrik übertragen, nach- und umgedichtet. Unsere Preisträgerin, Andrea Spingler, dagegen konzentriert sich auf Prosawerke, und dies ausschließlich aus dem Französischen. Ihr Weg führte sie in den frühen 80er Jahren von Sartre-Übersetzungen für Rowohlt zu Robbe-Grillet bei Suhrkamp, dessen Sprachspiele und Perspektivwechsel sie noch mehr begeisterten als Sartres existentialphilosophische Reflexionen. Und weiter ging es, über fast vier Jahrzehnte und mit verschiedenen Verlagen, mit Autoren wie Duras und Modiano ebenso wie mit Klassikern: Gide, Yourcenar, Alexandre Dumas. Besonders am Herzen aber lagen ihr glaube ich immer zeitgenössische vor allem Autorinnen: Unter anderem Pascale Kramer, Paule Constant, Yasmine Ghata, Maylis de Kerangal und zuletzt Marie-Hélène Lafon.
Wie aber steht es mit Andrea Spinglers Verhältnis zur Übersetzungstheorie? Danach gefragt, was sie bei Übersetzungen antreibe, sagt sie mit entwaffnender Lakonie: „Sätze machen, die funktionieren“. Ja, Andrea Spingler ist keine Theoretikerin ihrer Übersetzungskunst, oder zumindest hält sie ihre Theorie beharrlich geheim. Ich kenne nicht einmal Rechenschaftsberichte, eigene Nachlesen ihrer Arbeit, wie sie doch bei anderen bedeutenden Übersetzern nicht selten sind. So wie etwa Luzius Keller in seiner schönen Studie „Lire, traduire, éditer Proust“ freigiebig Auskunft erteilt über seine Prinzipien der Proust-Aneignung. Nein, Andrea Spingler nimmt ihre übersetzerische Fracht, setzt über und landet sie, ohne Schiffbruch, am anderen Ufer, wo ihre Autorinnen und Autoren das neue Land einer fremden Sprache trockenen Fußes und bester Laune betreten. So manche Stromschnelle hat sie dabei überwunden, aber sie selbst bleibt hinter dem bestmöglichen Auftritt und Erfolg der ihr Anvertrauten zurück, macht sich nahezu unsichtbar, hinterlässt keine theoretische Spur. Und damit ist sie zweifelsfrei in guter Gesellschaft. Dieter E. Zimmer, der große Nabokov-Übersetzer und Kritiker, hat einmal geschrieben: „Eine Übersetzungstheorie hatte ich nicht und sollte ich auch später nicht entwickeln (bei der Praxis des Übersetzens hilft sie genau so wenig wie die Thermodynamik bei der Zubereitung eines Rostbratens)“. Das könnte von Andrea Spingler stammen, wenn sie denn den Verzicht auf Theorie theoretisch begründen wollte. Man muss es einfach schmecken.
Einhellig in der Kritik ist das Lob von Andrea Spinglers sicherem Gespür für die Musikalität und Rhythmik eines Textes und der „Klarheit“ ihrer Übertragungen. Bei Dumas wird ihr entpathetisierter Duktus gelobt, entpathetisiert wohlgemerkt nicht im Vergleich zum Original, sondern im Vergleich zu unserer bisherigen Insel-Übersetzung, zwar schon älter, aber immerhin verfasst von keinem geringeren als dem, wenngleich nicht unumstrittenen, Ulysses-Übersetzer Georg Goyert. Sie beherrscht die knappe, viel Ungesagtes mitschwingen lassende Sprache einer Marguerite Duras genauso wie die kunstvolle Lakonie Agota Kristofs. Aber eben auch Maylis de Kerangals temporeiche Parataxen: man denke nur – wenn man es gelesen hat – an den furiosen Auftakt ihres Organspende-Romans „Die Lebenden reparieren“, eine Eloge auf das Herz des verunglückten Simon Limbres, die in einem einzigen verschachtelten Satz über mehr als eine Seite geht, ohne dass man auch nur einen Moment den Überblick verliert. Oder nehmen wir den besonderen Stil, die teils ungewöhnlichen Wendungen und kunstvoll austarierten Sätze einer Marie-Hélène Lafon, unter anderem in ihrem letzten Roman, „Die Annonce“, dessen Übersetzung ja einer der Anlässe für die Verleihung dieses Preises ist. An diesem Buch, erschienen im Rotpunktverlag, gefällt mir besonders, wie in dieser gewählten Sprache von eher einfachen Menschen erzählt wird, die selbst eben gerade wenig wortgewandt sind. Lafons Sprache ist hochgradig verknappt und präzise und verlangt, genauso verknappt und präzise übersetzt zu werden. Da muss man das richtige Wort finden, die innere Logik und den Rhythmus der Sätze erhalten.
Wie schafft man das? Schwer zu sagen – oder ganz einfach. Lesen, lesen, lesen gehört sicher dazu, und Andrea Spingler ist eine leidenschaftliche Leserin. Sicher auch Erfahrung im Umgang mit allen möglichen Arten von elaborierten Texten, aber ich denke, dass Andrea Spingler auch in ihren Anfängen mit Sartre schon gut war. Und selbstverständlich eine außergewöhnliche Sprachkompetenz in dem, was man „die Ausgangssprache“ nennt. Nur daraus entsteht das Gefühl für Originalität und Konventionalität der Sprache, aus der übersetzt wird, nur so entgeht man der „Originalitätsvermutung“, eher ein Anfängerfehler. Andrea Spingler lebt seit vielen Jahren mindestens zur Hälfte in Frankreich; und am liebsten würde sie ganz dort leben, wie sie mir gestanden hat.
Nun gestatten Sie mir noch ein paar Anmerkungen aus der Praxis im Verlag. Ich habe anlässlich dieser Laudatio natürlich darüber nachgedacht, warum ich so gern mit Andrea Spingler zusammenarbeite. Als Lektorin beschäftige ich mich eher weniger mit Grundsatzfragen, sondern halte mich an meine Erfahrung: Ich weiß, wer einfach gut übersetzt und mit wem ich schon gut zusammengearbeitet habe. Ganz wichtig: Dass man sich ohne große Worte versteht. Man tauscht sich aus, korrigiert sich hin und her, und oft findet die Übersetzerin oder der Übersetzer nach zwei passablen Lösungen dann die dritte und beste. Aber diese Findung setzt etwas voraus, was Andrea Spingler in hohem Maße auszeichnet: Das Gefühl der Unsicherheit, eine Professionalität des Selbstzweifels. Unsicherheit zu spüren und Selbstzweifel zu haben, das sagt sie von sich selbst, gute Kritiken und zahlreiche Auszeichnungen, die sie bekommen hat, hin oder her. Denn sie weiß, dass es (fast) immer nicht nur eine Möglichkeit gibt, in einer Übersetzung etwas auszudrücken, so wie es in der Ausgangssprache selten nur die eine einzige Möglichkeit gibt, etwas zu sagen. Dass jede Übersetzung eine Entscheidung gegen andere Möglichkeiten ist.
Einmal, am Anfang unserer Zusammenarbeit, habe ich Andrea Spingler gefragt, wie sich ihrer Erfahrung nach das Längenverhältnis zwischen französischem Original und deutscher Übersetzung darstellt. Beim Englischen kann man ja davon ausgehen, dass der deutsche Text bei einer literarischen Übersetzung 15-20 Prozent länger ausfällt, wofür es verschiedene sprachimmanente Gründe gibt: die reduzierten Wortlängen im Englischen ebenso wie die englischen Infinitive, für deren Übersetzung man im Deutschen häufig Nebensätze benötigt etc. Nun ging bei uns im Verlag das Gerücht um, dass auch bei einer französisch-deutschen Übersetzung der deutsche Text immer, wenngleich nicht erheblich, länger sei als der französische. Aber Andrea hat mich mit der entschiedenen Behauptung verblüfft, dass dem nicht so sei, und wenn doch, das nur daran liege, dass die Übersetzung versuche, den französischen Text zu erklären. Das sei aber gar nicht nötig und daher zu vermeiden. Tatsächlich habe ich feststellen können, dass sie eine Meisterin darin ist, dieser landläufigen Versuchung des Erklärens zu widerstehen.
Genau das führt uns zum Schluss noch einmal zu Celan zurück. In einem Brief an den seinerzeitigen Feuilletonchef der NZZ, Werner Weber, formulierte er suggestiv: „Bedenken Sie, sehr verehrter Herr Dr. Werner Weber, die Vielsilbigkeit, die Schwersilbigkeit des Deutschen im Vergleich mit dem Französischen! Dass es mir gelang, unter Hinzunahme einer einzigen Silbe auszukommen, d. h. das im Französischen Wort Gewordene noch einmal in seiner – dichterischen – Wörtlichkeit zu aktualisieren: das danke ich – verzeihen Sie die Emphase –, das danke ich … den Göttern.“ Eine selbstbewusste, geradezu gewalttätige Aussage, mit der Celan auf einer kongenialen Annäherung an das Fremde besteht. Und es ist in Richtung seiner lyrischen Dichtung gesprochen. Andrea Spingler würde sich einen solchen Hinweis auf die eigene Leistung sicher nicht herausnehmen, und doch beleuchtet Celans Diktum einen, vielleicht den wichtigsten Aspekt auch in ihren Übersetzungen: Die Wendung im Deutschen finden, die das, was im Französischen gesagt wird, trifft oder zumindest in einer gewissen Schwebe hält, ohne explanatives/explikatives Surplus, die Annäherung an das infinitesimale Eins-zu-Eins von Ausgangs- und Zielsprache. Aber damit sind wir fast schon wieder bei der Theorie. Und die ist, definitiv, nicht die Sache Andrea Spinglers, dieser Frau für die entschiedene Praxis.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und gratuliere Dir, liebe Andrea, ganz herzlich zum Paul-Celan-Preis und wünsche Dir und uns noch viele schöne Übersetzungsprojekte.
Dankrede von
Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Jury, liebe Kollegen, Freunde und Freundinnen,
die Auszeichnung mit dem Paul-Celan-Preis ist mir eine große, unverhoffte Freude und Ehre, für die ich dem Deutschen Literaturfonds und der Jury nicht genug danken kann.
Ich werde ausgezeichnet für das, was ich schon immer am liebsten tue: Lesen. Denn Übersetzen ist zuallererst Lesen und, wie Lesen, eine Lust. Lust muss es sein, Lust an der Sprache, Lust am Spiel mit der Sprache, Lust am Anderen, am Sich-Hineinversetzen in einen anderen, den Autor / die Autorin, die man in der eigenen Sprache mit den eigenen Worten sprechen lässt.
Das hat etwas mit Verwandlung, mit Schauspielerei zu tun, und wenn ich auch nicht dafür geschaffen bin, auf einer Bühne in die Haut eines anderen zu schlüpfen, ja, nicht einmal dafür, als ich selbst auf einer Bühne aufzutreten, so macht es mir doch großes Vergnügen, im Kopf und auf dem Papier Theater zu spielen.
Dass ich das tun und zu meinem Beruf machen konnte, verdanke ich glücklichen Begegnungen mit Menschen, die mir Freunde, Förderer, Lehrer, Vorbilder wurden, ohne die ich nicht hier stünde und deren Loblied ich hier singen will.
Die Demut vor dem fremden Text, die philologische Genauigkeit haben mich zuerst die Filmemacher Danièle Huillet und Jean-Marie Straub gelehrt, für die ich in den siebziger Jahren Untertitel übersetzen durfte. Danièles Strenge war eine gründliche, unvergessliche Schule.
Meine nächste Lehrerin war Maja Pflug, damals, als ich sie kennenlernte, schon Übersetzerin aus dem Italienischen, die mich überhaupt auf die Idee brachte, Literatur zu übersetzen, und mit der ich Seite an Seite am Schreibtisch sitzend, eine tippend, eine lesend, beide formulierend, sozusagen einen privaten Workshop absolvierte.
Und dann hatte ich immer wieder großes Glück mit meinen Lektoren. Das ist nicht selbstverständlich, ich fürchte, heute noch weniger als früher, und ich habe auch missliche Erfahrungen gemacht mit oberflächlichen Lektoraten, die eigentlich gar keine waren, oder im Gegenteil mit Lektoren, die ihre eigene Vorstellung, wie das Buch zu klingen habe oder wie sie meinten, dass der Leser es nur verstehen könne, durchsetzen wollten, ohne meine Entscheidungen zu respektieren. Ein gutes Lektorat dagegen sollte natürlich Fehler erkennen, die es immer gibt, aber vor allem zunächst einmal darauf vertrauen, dass der Übersetzer sich bei seinen Entscheidungen etwas gedacht hat, und ihm auf dieser Grundlage behutsam helfen, seine Arbeit zu vervollkommnen.
Ein Meister darin war der große Lektor, Freund und Förderer vieler Kollegen Helmut Frielinghaus, dem ich auf meiner allerersten Buchmesse begegnet bin, der mich an den Sartre-Herausgeber Traugott König weiterempfohlen und meine Arbeit, so lang er lebte, wohlwollend begleitet hat.
Und weil ich glaube, dass Lektoren selten öffentliches Lob bekommen, möchte ich die nennen, die mir im Lauf der Jahre lieb und teuer waren oder wurden oder sind: Elisabeth Borchers, von der ich so viel gelernt habe in meinen ersten Übersetzerjahren, bei der Arbeit an Romanen von Robbe-Grillet, Quefellec, Duras, Modiano; Elisabeth Raabe, die Pascale Kramer für mich entdeckt hat; Raimund Fellinger, der seine Anerkennung zurückhaltend, aber doch zum Ausdruck brachte, die mir viel bedeutet hat; Christiane Schmidt, deren souveräne, Hand und gleichzeitige Behutsamkeit beim Lektorieren das sichere Gefühl vermitteln, am Ende das bestmögliche Ergebnis zu erreichen; Daniela Koch, die mit mir an der „Annonce“ von Marie-Hélène Lafon so lange und engagiert geknobelt hat, bis die Übersetzung sogar die Celan-Preis-Juroren überzeugt hat, wofür ich ihr, die leider nicht da sein kann, ein extragroßes herzliches Danke zurufen möchte; und schließlich Heike Ochs, mit der ich demnächst wieder zusammenarbeiten werde, worauf ich mich schon freue, und der ich überaus dankbar bin für ihre schöne Laudatio.
In jüngster Zeit habe ich noch eine besondere Erfahrung gemacht, die hier nicht unerwähnt bleiben soll. Das war die Zusammenarbeit mit Claudia Steinitz und Tobias Scheffel bei der Übersetzung des umfangreichen Briefwechsels zwischen Albert Camus und Maria Casarès. Wir haben uns gegenseitig redigiert, konnten uns, dem Übersetzerhaus Looren sei Dank, bei einem trotz Pandemie möglichen Zusammentreffen intensiv austauschen und haben irgendwie, durch so etwas wie Sympathie, eine gemeinsame Ebene und, ja, Sprache gefunden, die das Buch zu einem Ganzen und uns zu einem glücklichen Übersetzerteam gemacht hat.
Zu guter Letzt möchte ich an diesem Tag mit Dankbarkeit meiner verstorbenen Kollegin und Freundin Eva Moldenhauer zuwinken, die mir immer Ansporn und unerreichtes Vorbild war.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit!