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Paul-Celan-Preis 2023 an Holger Fock und Sabine Müller

Der vom Deutschen Literaturfonds alljährlich vergebene Paul-Celan-Preis für herausragende Übersetzungen geht in diesem Jahr an Holger Fock und Sabine Müller.
Der Preis ist mit 20.000 Euro dotiert.

Der Preis wurde am 27. November 2023 im Literarischen Colloquium Berlin überreicht.

Preisverleihung des Deutschen Literaturfonds 2023

Begründung der Jury

Holger Fock und Sabine Müller erhalten den Paul-Celan-Preis für ihr übersetzerisches Gesamtwerk, das meisterhafte Übertragungen aus dem Französischen von bedeutenden Autoren wie Matthias Énard, Alain Mabanckou, Patrick Deville, Sylvain Tesson, Érik Orsenna, Jean Rolin oder Philippe Grimbert umfasst sowie jüngst ihre so präzise wie ästhetisch beglückende Übersetzung des 2022 im Hanser Verlag erschienenen Romans Die geheimste Erinnerung der Menschen. Dieser Roman des senegalesischen Schriftstellers Mohamed Mbougar Sarr gab nun den Anlass für die Auszeichnung des Übersetzer-Duos.

In Die geheimste Erinnerung der Menschen, einem Roman, der mehrere Jahrhunderte und Kontinente umspannt und sich auf höchst raffinierte Weise mit Rassismus und Kolonialismus in der Welt der Literatur befasst, offenbart sich die ganze Fülle ihres langjährig erprobten Könnens, sei es der unerschöpflich reiche Wortschatz, die Fähigkeit, endlose Satzkaskaden mit leichthändiger Eleganz im Deutschen nachzubilden oder Figuren, Schauplätze und Dialoge so lebendig zu gestalten wie das Original, aber auch das Gespür für feinste stilistische wie emotionale Nuancen und der Blick fürs Detail, sei es noch so winzig. Gerade an solchen Winzigkeiten lässt sich wahre übersetzerische Größe erkennen. Damit haben Holger Fock und Sabine Müller die Jury nachhaltig beeindruckt.

Begründung der Jury, der Karin Betz, Ursula Gräfe, Patricia Klobusiczky, Christiane Körner und Ulrich Sonnenberg angehören

Laudatio auf Holger Fock und Sabine Müller von Cornelia Ruhe

Wenn ein Roman aus einem einzigen Satz besteht, der sich über 512 Seiten zieht – für jeden Kilometer, den der Protagonist mit dem Zug zwischen Mailand und Rom zurücklegt, eine Seite –, dann ist die Übersetzung dieses Romans eine Herausforderung, die mit Sicherheit nicht jeder oder jede annehmen würde. Gelingt es aber, Mathias Énards Zone so ins Deutsche zu übertragen, dass trotz des unterschiedlichen Satzbaus der beiden Sprachen diese bemerkenswerte Form erhalten bleibt, ohne dass man den Überblick verliert, so dass einen ebenso wie im Original die Erkenntnis, dass es sich wirklich nur um einen einzigen Satz handelt, erst nach vielen Seiten überkommt; gelingt es darüber hinaus auch den Rhythmus dieses fast unendlichen Satzes wiederzugeben, der gleichsam die Bewegung des Zuges aufnimmt, so kann man davon ausgehen, dass wir es mit wahren Könnern ihres Fachs zu tun haben: mit Sabine Müller und Holger Fock, die – welch glückliche Wahl! – es heute Abend mit dem Paul-Celan-Preis zu ehren gilt.

Übersetzungen sind stets, so heißt es auch über Paul Celan, den Namensgeber dieses Preises, als Übersetzer, „persönliche Auseinandersetzungen“ mit den Originaltexten, sie sind „von einer ‚wörtlichen‘ Nachschrift denkbar weit entfernt“.[1] Satz, Satzbau und Rhythmus sind demnach nicht die einzigen Elemente, die es so ins Deutsche zu übertragen gilt, dass sie der Vorlage gerecht werden und doch lesbar und vergnüglich bleiben (oder werden): das Genre, den Stil, die Tonlage sowie die sprachlichen Register, auch das gilt es, in all seiner Unterschiedlichkeit so wiederzugeben, dass es im Deutschen funktioniert und doch seine Spezifizität behält. Hinzu kommen die notwendigen geographischen und kulturellen Kenntnisse, die die Texte voraussetzen und in die man sich ebenfalls einarbeiten muss, wenn man, wie Holger Fock und Sabine Müller, den Anspruch hat, auch mehr oder weniger spezifische Details für das spätere Lesepublikum richtig zu übertragen.

Ist die Umstellung in Bezug auf all diese Aspekte aber schon da herausfordernd, wo sie von einem Übersetzungsprojekt zum nächsten zu erfolgen hat, so wird sie zu einem geradezu unmöglichen Unterfangen, wenn ein Text allein nicht nur unterschiedliche Regionen und kulturelle Kontexte umspannt, sondern auch noch in einer ganzen Reihe verschiedener Stile verfasst ist, die, was es noch schlimmer macht, nicht einfach eine Ausgeburt der Fantasie des Autors sind, sondern jeweils intertextuell bezogen auf andere Autorinnen und Autoren, die den Text in nicht immer offensichtlicher Weise heimsuchen, sondern die zum Teil erst zu ermitteln sind. Sie ahnen es schon, ich spreche von Mohamed Mbougar Sarrs La plus secrète mémoire des hommes, Die geheimste Erinnerung der Menschen, über dessen Übersetzung Christoph Vormweg im Deutschlandfunk gesagt hat:

Mit jedem Kapitel verschachtelt und relativiert Mohamed Mbougar Sarr die Perspektiven auf T.C. Elimane immer weiter. Mit jeder Figur ändert sich auch der Stil. So können und müssen Sabine Müller und Holger Fock ihre herausragenden übersetzerischen Fähigkeiten spielen lassen: von der Einfühlung in Marème Siga D.s oft polternde, alle Wunden offenlegende Erzählwut über das geschichtsgeladene Vermächtnis, in dem ihr Vater den Alltag im Senegal vor Ankunft der weißen Kolonialherrn aufleben lässt, bis hin zu dem zehnseitigen Langsatz [an dieser Stelle würde ich ja einschieben – nur zehn Seiten!], der den zeitlich weit zurückliegenden Bewusstseinsstrom von Elimanes Mutter, der angeblich dementen Mossane, einfängt.[2]

Diesen ebenso komplexen wie faszinierenden Roman so zu übersetzen, dass er sich weiterhin ebenso als literarischer Krimi wie als Schlüsselroman, als Anklage an den Umgang der französischen Verlagslandschaft mit so genannten frankophonen Autorinnen und Autoren wie als Einschreibung in die Weltliteratur unter bravourösem Nachweis der Beherrschung ihrer verschiedenen Stile lesen lässt, und der vor allem ein großes Lesevergnügen ist, ist das Verdienst von Sabine Müller und Holger Fock. Das Resultat, die großartige Übersetzung des Romans, zeugt von ihrer bemerkenswerten Fähigkeit, literarische Nuancen und Feinheiten zu erfassen und wiederzugeben.

Zugleich ist die Übersetzung selbst aber nur die Spitze des Eisbergs im Rahmen einer Arbeit, die nur allzu oft unsichtbar bleibt, auch wenn sie in ihrer Bedeutung für die Vermittlung nicht nur von Literatur, sondern auch von anderen Kulturen kaum überschätzt werden kann: Der eigentlichen Übersetzung geht, um Celans Arbeitsweise noch einmal zum Vergleich heranzuziehen, eben eine „persönliche Auseinandersetzung“ mit dem Roman voraus, die die vielleicht gründlichste Analyse ist, die Texte je erfahren – und das sage ich als Literaturwissenschaftlerin: geprüft werden sie dabei nicht nur in Bezug auf die Stimmigkeit jedes einzelnen Satzes, sondern auch in Bezug auf ihre Logik, ihre möglichen Interpretationen, die Verweisstrukturen innerhalb des Textes als auch zu anderen Texten oder kulturellen Kontexten. Diese intensive Auseinandersetzung endet bei Sabine Müller und Holger Fock aber nicht beim Text selbst: sie findet selbstverständlich in der gemeinsamen Auseinandersetzung mit der Lektüre und Perspektive des bzw. der jeweils anderen statt. Es ist vielleicht das Privileg der gemeinsamen Arbeit als Paar, dass sie im Dialog stattfindet und man im Gegenüber immer auch ein Korrektiv hat – es bedeutet aber auch, aushalten zu müssen, wenn man sich über einen Text oder auch nur über einen Aspekt eines Textes einmal nicht einig ist. Die Früchte dieser Diskussionen und gründlicher, mehrfacher Überarbeitungen sind dann ihre präzisen, nuancierten Übersetzungen.

Beide suchen aber darüber hinaus stets auch den Kontakt zu ‚ihren‘ Autorinnen und Autoren, um auch mit ihnen die Texte zu diskutieren und so zu einem möglichst umfangreichen Verständnis zu gelangen. Allerdings wissen wir alle, die wir hier versammelt sind, dass Autorinnen und Autoren nicht immer die besten Analysen ihrer Texte hervorbringen. Es wäre daher ein falsches Verständnis der Arbeit von Holger Fock und Sabine Müller, wenn man davon ausginge, dass sie im Gespräch mit den Schriftsteller*innen ‚die Wahrheit‘ über deren Texte suchten. Vielmehr geht es darum, durch die Nähe zu ihnen privilegierte Einblicke zu erhalten, dann aber auch wieder genug Distanz aufzubauen, um die Texte mit der eigenen Erfahrung und Kompetenz zu betrachten und sie aus der eigenen Perspektive heraus zu übersetzen.

Erst wenn all diese Vorarbeit geleistet ist, beginnt also die eigentliche Arbeit, die dann selbstverständlich auch keine „wörtliche Nachschrift“ mehr sein kann, weil es nicht nur darum geht, in einem eher schlichten Verständnis von Übersetzung einzelne Wörter oder Sätze zwischen den Sprachen hin und her zu transportieren, sondern eben auch all die Konnotationen, Verweise, Genrespezifika und Register mit zu berücksichtigen – und daraus dann einen Text zu machen, der den Geist des französischen Originals atmet und der vom deutschsprachigen Publikum gut angenommen wird.

Die Liste der Autorinnen und Autoren, die es Sabine Müller und Holger Fock verdanken, einem deutschsprachigen Lesepublikum zugänglich geworden zu sein, ist lang, sie reicht von Pierre Loti über Pierre Michon bis Pierre Guyotat, von Antoine Volodine über Eric Orsenna bis Cécile Wajsbrot, von Jean Rolin bis Catherine Breillat. Neben der Tatsache, dass es ganz überwiegend Texte in französischer Sprache sind, die die beiden gemeinsam übersetzen, handelt es sich darüber hinaus fast immer um Prosatexte. Damit enden aber auch schon die Gemeinsamkeiten: Manche sind, wie Théophile Gautier, aus dem 19. Jahrhundert und echte Klassiker, viele sind eher im 20. Jahrhundert zu verorten und genießen künstlerisch hohes Ansehen, wie etwa auf je unterschiedlichen Ebenen André Breton oder Pablo Picasso. Manche fühlen sich vor allem dem Hexagone zugehörig, andere haben ihre Wurzeln in Russland – Andreï Makine, Senegal – Mohamed Mbougar Sarr – oder Kongo – Alain Mabanckou –, wieder andere fühlen sich, wie etwa Olivier Rolin oder Patrick Deville, in der ganzen Welt zu Hause. Viele dieser Namen, aber eben nicht alle, würde man wie selbstverständlich aufzählen, wenn man zu sagen hätte, wer zu den zentralen Autorinnen und Autoren des 21. Jahrhunderts der zeitgenössischen Literatur in französischer Sprache zählt. Es ist ein illustrer Kreis, der sich auf dem Schreibtisch von Sabine Müller und Holger Fock begegnet, die Organisatorinnen oder Organisatoren von so manchem Literaturfestival wären mehr als neidisch.

Tatsächlich würde man die Tätigkeit der beiden dramatisch unterschätzen, wenn man davon ausgehen würde, dass sie reine Schreibtischtäter*innen sind. Zwar behaupten sie bescheiden, dass es eher den Zufälligkeiten der Verlagspolitik geschuldet sei, welchen Text oder welche Autorin sie als nächstes übersetzen, tatsächlich sind sie aber seit Beginn ihrer gemeinsamen Arbeit so exzellent vernetzt im deutsch- wie französischsprachigen Raum, dass man als Verlegerin oder Verleger wenig vom Geschäft verstehen würde, wenn man nicht auf ihr Urteil und ihren Rat hören würde, der sich aus Begegnungen auf Messen, Literaturfestivals und Lesungen speist und der nicht dem Zeitgeist folgt: Autoren, an die sie glauben wie etwa Patrick Deville, dessen fast gesamtes, im wahrsten Sinne des Wortes weltumspannendes Werk sie auf Deutsch haben erstehen lassen – für ihn und für all die anderen sind Kulturvermittler wie Sabine Müller und Holger Fock Brückenbauer in andere Kulturen. In Zeiten, in denen die Brüchigkeit des Verständnisses zwischen den Kulturen immer wieder aufscheint, sind ihre Übersetzungen in ihrer Intelligenz und Genauigkeit, in ihrer erfahrungsgesättigten Eleganz nicht nur Zeugnisse, wie es in der Begründung der Jury heißt, von der „wahren übersetzerischen Größe“ Holger Focks und Sabine Müllers, sie sind auch Angebote an uns aus der Bequemlichkeit unserer Sofas und Ohrensessel heraus Einblicke zu erhalten in die weite Welt der Literaturen in französischer Sprache.


[1] Leonard Olschner: Der feste Buchstab. Erläuterungen zu Paul Celans Lyrikübertragungen. Göttingen/Zürich: Vandenhoeck & Ruprecht 1985, 57.

[2] Christoph Vormweg: „Mohamed Mbougar Sarr: Die geheimste Erinnerung der Menschen. Der ‚schwarze Rimbaud‘“. In: Deutschlandfunk, 25. Dezember 2022, https://www.deutschlandfunk.de/der-schwarze-rimbaud-100.html (17.11.2023).


Dankrede von Holger Fock und Sabine Müller

Das Umfeld, der Zufall und die Ordnung im Satz

Liebe Frau Fischer, lieber Herr Böhm, liebe Frau Ruhe,
sehr geehrte Mitglieder des Deutschen Literaturfonds,
liebe Jurorinnen und Juroren, liebe Anwesende,

um das Ende Ihrer Laudatio aufzunehmen, liebe Frau Ruhe, könnte man sagen, dass Paul Celan viel dazu beigetragen hat, die deutsche Leserschaft nach 1945 in ihren Ohrensesseln aufzurütteln. Er hat sich unter schwierigsten Bedingungen mit der Frage auseinandergesetzt, was Sprache transportiert und wie man in der Dichtung zu einer Art von Wirklichkeit gelangt, und das mit einer intellektuellen Tiefe, vor der wir nur schweigen können.

In seiner Büchner-Preis-Rede von 1960 kommt Paul Celan fast anekdotisch auf eine überraschende Koinzidenz, die uns dann doch einen Anknüpfungspunkt bietet. Er berichtet, dass er sich davor hüten müsse, am Ende von Büchners Leonce und Lena eine „kommende“ Religion zu lesen statt eine „kommode“ Religion, und dass er sich frage, ob „diese den Worten unsichtbar zugelächelten Anführungszeichen (…) vielleicht nicht als Gänsefüßchen“, sondern „vielmehr als Hasenöhrchen (…) verstanden sein wollen“, das heißt, „als etwas nicht ganz furchtlos über sich und die Worte Hinauslauschendes“[1]. Hier treffen sich unsere Erfahrungen als Übersetzer mit denen Celans: Nicht ganz furchtlos bilden wir nach, was wir den Texten unserer Autoren abgelauscht haben, und in ihren Spurrillen lauschen wir in unsere Sprache hinaus.

Gemessen an den Anforderungen, vor denen Paul Celan stand, hat es etwas Befreiendes, Romane zu übersetzen. In der Prosa muss die Welt nicht neu erschaffen werden, sie ist als eine Verhandelbare schon da, ihre Sätze sind der Motor, der uns zur Welt führt. Den Motor am Laufen zu halten, wenn wir unseren Autoren beim Übersetzen hinterherfahren, ist ein mühevoller, keineswegs reibungsloser Prozess von Annäherung und Distanzierung, bei dem auch die Dynamik als Paar eine Rolle spielt, Cornelia Ruhe hat darauf hingewiesen. Und bisweilen stottert der Motor, Zweifel kommen auf, doch ebenso die Hoffnung auf ein Gelingen. Keine Zweifel hatte zu unserem Glück die Jury des Paul-Celan-Preises. Dafür danken wir allen Jury-Mitgliedern ganz herzlich, ebenso dem Deutschen Literaturfonds, und wir danken Ihnen, liebe Cornelia Ruhe, für Ihre schönen Lobesworte.

Dankbar sind wir auch allen, die uns seit drei Jahrzehnten geholfen und unterstützt haben, den vielen Kolleginnen und Kollegen vom VdÜ, den Institutionen und ihren MitarbeiterInnen, den Initiativen und Netzwerken, die uns mit Informationen, Workshops und Stipendien versorgen, ohne die wir vom Literaturübersetzen nicht leben könnten. Sie sind unsere beruflich-emotionale Heimat.

Darüber hinaus danken wir den VerlegerInnen und LektorInnen, die uns ihre bisweilen teuer erkauften Bücher anvertrauen, den KritikerInnen, die unsere Übersetzungen manchmal kritisch, doch stets wohlwollend begleiten. Namentlich danken wir unseren Hanser-Lektorinnen, Julia Graf, die bei Hanser Berlin Mathias Enard betreut, und Emily Modick, die im Hanser Verlag München unsere Mohamed Mbougar Sarr Übersetzung so hervorragend lektoriert hat, dass sie ausschlaggebend für diesen Preis wurde.

Einen besonderen Dank richten wir an unseren früheren Lektor Delf Schmidt, der den Mut zu Jean Rolin und Mathias Enard hatte, der bis heute Übersetzungen von uns mit dem Bleistift in der Hand liest und uns auf kleine Ungeschicklichkeiten hinweist, die er großzügig „Petitessen“ nennt. Hier muss auch der großartigen Eva Moldenhauer gedacht werden: Die 2019 verstorbene Paul-Celan-Preisträgerin nahm bekanntlich kein Blatt vor den Mund, doch ihre Lektüre und Kritik war für uns immer hilf- und lehrreich. Dazu blicken wir mit großer Dankbarkeit auf alle unserer VorgängerInnen, die wir als deutsche Stimmen ihrer Autorinnen und Autoren so sehr schätzen.

Last but not least danken wir unseren Autorinnen und Autoren, die es uns durch ihre Werke ermöglicht haben, unsere Übersetzungskunst im Laufe der Jahre zu entwickeln. Viele haben uns bei Fragen bereitwillig Auskunft gegeben, etliche konnten wir persönlich kennenlernen, manche wurden Freunde, wie der 2015 viel zu früh verstorbene Kunsthistoriker und Neo-Dadaist Marc Dachy, wie Antoine Volodine, Cécile Wajsbrot, Patrick Deville und Mathias Enard.

Verehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde, betrachtet man die reine Textarbeit, mag Literaturübersetzen eine einsame Tätigkeit sein (bei der wir immerhin zu zweit sind). Diese Danksagung zeigt: Ein günstiges, helfendes, förderndes, ermutigendes Umfeld ist von entscheidender Bedeutung für ein erfolgreiches Übersetzerleben. Tatsächlich wird das notwendige soziale Umfeld viel zu wenig beachtet, wenn es ums Literaturübersetzen geht.

Der französische Dichter Alphonse de Lamartine schrieb in den Erinnerungen an seine Orient-Reise, kein Buch sei so schwer zu schreiben wie eine Übersetzung[2].
Uns fällt es dagegen leichter zu übersetzen, als über das Übersetzen zu sprechen. Pierre Michon sagte vor kurzem: „Ich kann über das, was ich geschrieben habe, mit Sinn, mit Affekt sprechen, aber ich kann mich nicht begrifflich über meine Texte äußern. Ich tue mich mit der Theorie schwer.“[3] So ähnlich geht es auch uns: Tiefgründige oder inspirierende Aussagen wären eher kreisende, um nicht zu sagen weitschweifige Annäherungen, ungeeignet für eine kurze Rede. Um Ihnen trotzdem ein wenig von unserer Haltung zu vermitteln, werfen wir zwei Schlaglichter auf diesen zauberischen Vorgang, der Literatur in einer anderen Sprache wiedergibt und diese dabei verwandelt.

Es war reiner Zufall, als wir 2005 über Umwege erfuhren, dass Jürgen Ritte, 1992 der erste Übersetzer Patrick Devilles, keine Zeit hatte, Pura Vida, den ersten Roman seiner Abracadabra-Reihe zu übersetzen. Demnächst beginnen wir mit dem neunten Band. Häufiger als man denkt, spielt – wie im Fall Devilles – der Zufall eine wichtige Rolle im „Portfolio“ unserer Übersetzungen.

Durch Zufall entdeckten wir 2007 Yambo Ouologuems Roman Le Devoir de violence in der Originalausgabe von 1968 in einem Antiquariat in Montparnasse, 2017 dann einen Nachruf auf ihn in der Libération … Als Hanser uns im September 2021 um eine Einschätzung zu Mohamed Mbougar Sarrs Die geheimste Erinnerung der Menschen bat, wussten wir nach drei Seiten Lektüre, welche Geschichte den Subtext dieses Romans bildet. Laut Sarr ist der Zufall „nur ein Schicksal, das man nicht kennt“[4]. Ihm verdanken wir zehn berauschende Monate Arbeit und nun zwei großartige Preise.

Oft wird bei Übersetzungen auf Stilebenen, Tonlagen, Rhythmus, Register abgehoben. Schön und gut, am wichtigsten für das Gefüge eines Prosatextes ist für uns jedoch die Arbeit am Satz, an seiner inneren Architektur. Im Deutschen ist vor allem die Ordnung im Satz, besonders im langen Satz, entscheidend für seine Verständlichkeit und Lesbarkeit. Patrick Deville, der bei Flaubert und Proust gelernt hat, wie er seine Sätze baut, sagte in einem Interview: „La base de la littérature, c’est la phrase.“[5] „Der Satz ist das Fundament der Literatur.“ Gerade bei langen Sätzen kommt es darauf an, den Leser nicht zu verlieren, einen grammatikalischen Rhythmus zu finden, der ihm und dem Text Atempausen lässt, damit er beim Lesen seine Suggestivkraft entfalten kann. Kaskaden langer Sätze sind wie Wildbäche voller Felsgestein, sie müssen fließen.

Deville bezeichnet seine Abracadabra-Romane als „Romane ohne Fiktion“ und erläutert diesen neuen Begriff so: „A part dans la forme ou la langue, je n’invente rien.“[6] – Dem schließen wir uns mit unseren Übersetzungen gern an: Abgesehen von der Form und der Sprache erfinden wir nichts. Wir danken für Ihre Aufmerksamkeit. Danke für diesen großartigen Preis. Merci beaucoup.


[1] Paul Celan, Der Meridian: Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises, Frankfurt/Main 1961, S. 21.

[2] „De tous les livres à faire, le plus difficile, à mon avis, c'est une traduction“, Alphonse de Lamartine, Souvenirs, impressions, pensées et paysages pendant un voyage en Orient, Paris 1835, Bd. 1.

[3] Pierre Michon, Jeder Satz ein Blitz, Gespräch mit Nicolas Dutent (Original in: Esprit, Paris Juli/August 2023), übers. v. Dieter Hornig, in: Lettre International Nr. 142, Berlin Herbst 2023, S. 50.

[4] Mohamed Mbougar Sarr, Die geheimste Erinnerung der Menschen, Hanser Verlag, München 2022, S. 37.

[5] „La base de la littérature, c’est la phrase“, Patrick Deville, Le tapis volant, Entretien sur l’écriture avec Pascaline David, Éd. Du Seuil, Paris 2021, S. 32.

[6] Patrick Deville, Interview für das Magazin MagPlus des Pays de la Loire, Januar 2013.


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