Großer Preis des Deutschen Literaturfonds 2024 an Martina Hefter
Den mit 50.000 Euro dotierten „Großen Preis des Deutschen Literaturfonds“ erhält in diesem Jahr
. Sie wurde von der Jury, bestehend aus Manuela Reichart, Miriam Zeh und Hans Thill, aus dem Kreis der bisher durch den Deutschen Literaturfonds geförderten Stipendiaten und Stipendiatinnen gewählt.Der Preis wurde am 21. November 2024 im Literarischen Colloquium Berlin überreicht.
Der Große Preis des Deutschen Literaturfonds
Der Deutsche Literaturfonds, der sich seit 1980 der Förderung deutschsprachiger Gegenwartsliteratur widmet, hatte 2020 sein 40-jähriges Jubiläum zum Anlass genommen, erstmals den mit 50.000 Euro dotierten Großen Preis des Deutschen Literaturfonds zu vergeben. Der Preis geht hervor aus dem zuletzt mit 30.000 Euro dotierten Kranichsteiner Literaturpreis, der zwischen 1983 und 2019 jährlich durch den Deutschen Literaturfonds in Darmstadt verliehen wurde.
Begründung der Jury
Der Große Preis des Deutschen Literaturfonds geht 2024 an
.Mit ihrem leichtfüßigen Gestus, dem eindrucksvollen Alltagsparlando und ihrem komplexen Formbewusstsein hat die 1965 im Allgäu geborene
Auch die Grenzen zu Tanz und Bewegung sind fließend. Der Körper spielt nicht nur für die Performerin, sondern auch für die Autorin eine Rolle. Er kann schweben, aber auch hungern, alt und krank sein. Eindringlich und empathisch erschließt Hefter in ihren Gedichten und Sprechtexten Es könnte auch schön werden das Pflegeheim als literarischen Ort.
Ihr aktueller Roman Hey guten Morgen, wie geht es dir? erzählt vom chronisch kranken Körper. Kunstfertig überblendet Hefter die belastende Pflegeverantwortung, die die freischaffende Künstlerin „Juno“ für ihren Partner „Jupiter“ übernimmt, mit Bildern von antiken Göttern und Planeten. Der Kosmos des Himmelsvaters ist begrenzt, während Juno ihre Bahnen durch die Stadt und das digitale Netz zieht. So gerät nicht nur die Beziehung zwischen Pflegender und Gepflegtem, sondern auch zwischen der alternden Frau und einem Internet-Liebesbetrüger, einem „lover boy“, in ihren stets offenen Blick.
Für ihr lyrisches Gesamtwerk und mit besonderer Hervorhebung ihres jüngsten Romans Hey guten Morgen, wie geht es dir? verleiht die Jury den ,Großen Preis des Deutschen Literaturfonds'.
Laudatio auf
von Bettina BaltschevSehr geehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde, liebe Martina Hefter,
reisen Sie bitte mit mir vier Monate und drei Tage in die Vergangenheit zurück und 144 Kilometer nach Süden. Sie befinden sich nun am 18. Juli in der Leipziger Kolonnadenstraße, genauer gesagt im Hinterhof von Rotorbooks, einer unabhängigen Buchhandlung für Theorie, Kunst und Literatur. Es ist ein warmer Sommerabend, ungefähr einhundert Menschen haben sich versammelt, um der Premiere von Martina Hefters neuem Buch beizuwohnen: Hey guten Morgen, wie geht es dir? Martina Hefter springt zwischen den Gästen hin und her, sie sorgt sich, dass jeder einen Sitzplatz bekommt, auf Bierbänken, Holzstühlen und wackeligen Hockern. Die meisten Leute kennt sie persönlich. Es sind Kollegen und Kolleginnen aus dem Theater und dem Tanzstudio, wo sie probt und trainiert. Es sind Studierende aus dem Deutschen Literaturinstitut, wo sie hin und wieder unterrichtet. Dazu die zahlreichen Freunde und Freundinnen, die sie in den letzten Jahrzehnten in dieser Stadt gefunden hat. Und natürlich ihre Familie, ihre zwei erwachsenen Töchter und ihr Mann. Es ist der kleine eindrucksvolle Kosmos einer Frau, die viele Begabungen in sich vereint und für die künstlerische Grenzüberschreitungen ganz selbstverständlich sind, als Tänzerin, als Performerin, als Dichterin, als Schriftstellerin. Und auch wenn ihre Bücher mal in die Kategorie Lyrik, mal die Kategorie Prosa einsortiert werden, sollte man diesen abgezirkelten Begriffen nicht glauben, denn die Übergänge sind fließend, alle ihre Texte sind poetisch und erzählend zugleich. Tänzerisch auch, wenn man dabei an den Rhythmus der Sprache denkt. Performativ auch, wenn man allein an die Titel ihrer Bücher denkt, die noch bevor man die erste Seite aufgeschlagen hat, erste Assoziationsräume eröffnen. Nach den Diskotheken oder Es könnte auch schön werden oder In die Wälder gehen, Holz für ein Bett klauen. Und gerade eben: Hey guten Morgen, wie geht es dir? Wie oft Martina Hefter in den letzten Monaten wohl mit diesem Satz begrüßt wurde?
Auch an diesem Sommerabend erleben die Gäste keine gewöhnliche Lesung, es ist eine musikalisch-literarische Soiree. Martina Hefters Stimme kommt mal aus ihr, mal aus einem kleinen blechern klingenden Lautsprecher, begleitet wird sie von den Synthesizer-Loops ihres Musikerfreundes Patrice Libep. Sorgsam hat Martina Hefter die Textstellen ausgesucht, mit denen sie uns in die Geschichte von Juno hineinzieht. Diese Erzählung von einer Frau, die tagsüber für ihren kranken Mann sorgt und nachts mit Love-Scammern chattet, verbindet die kleine mit der großen Welt und zwar auf eine Weise, wie man es zuvor noch nicht gelesen hat. Dabei ist diese Juno so zart, so stark, so klug und so witzig, dass man Martina Hefter einerseits glauben will, wenn sie behauptet, dass sie nicht Juno sei, aber insgeheim denkt, ach ja, rede du mal, du zarte, starke, kluge, witzige Frau. Und während man so im heiter gestimmten Hinterhof von Rotorbooks sitzt, ist man froh, dass man zu diesem kleinen Kosmos von Martina Hefter gehören darf. Ein Kosmos, der nicht dunkel ist, sondern warm und hell, einnehmend und einladend. Was absolut nicht selbstverständlich ist, wenn man weiß, welche Existenzsorgen sie als freie und grenzenlose Künstlerin immer wieder plagen. Da wäre es vermutlich einfacher, sich marktkonform in eine Schublade stecken zu lassen, sich für eine Kunstrichtung zu entscheiden oder die Kunst ganz aufzugeben. Aber Aufgeben ist keine Option, weder für Martina Hefter noch für ihre Heldin Juno.
Man kann es nachlesen in Hey guten Morgen, wie geht es dir?. Ein Buch, das nach diesem schönen Sommerabend am 18. Juli plötzlich in aller Munde ist. Es erscheinen begeisterte Kritiken von Hey guten Morgen, wie geht es dir?, der Titel taucht erst auf der Longlist und dann auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises auf, worüber Martina Hefter sich mehr zu wundern scheint als ihre Leserinnen und Leser. Am 17. September schreibt sie um 12.05 Uhr auf Facebook in ihrem unnachahmlichen Ton: „Eines Tages schreibst du ein paar Zeilen auf und meinst, du machst einen kleinen Essay in Versen draus und plötzlich merkst du, du kommst ins Erzählen, hö, denkst du, wie ist denn das passiert?, und es macht Spaß und der Text wird immer größer und größer und irgendwann musst du dir eingestehen, du schreibst einen Roman (…)“ And the rest is history.
Aber wenn ich vorhin behauptet habe, es sei ein schönes Gefühl, zu dem kleinen Leipziger Kosmos von Martina Hefter gehören zu dürfen, dann ist das Gefühl noch schöner, nun zu erleben, wie sie mit ihrem Schreiben immer mehr Menschen erreicht, wie ihre Lesungen von kleinen Sälen in große Säle verlegt werden, wie also auch immer mehr Menschen an ihrer Kunst teilhaben, mit Rhythmus zu verführen, mit Sprache zu spielen und sich doch nie im Spiel zu verlieren. Sondern den Ernst der Lage immer mit in den Blick zu nehmen, sei es in globaler Hinsicht, wenn sich in der Beziehung zwischen Juno und ihrem Lieblings-Scammer die Unwucht spiegelt zwischen dem, was wir euphemistisch globaler Süden und globaler Norden nennen. Sei es in zwischenmenschlicher Hinsicht, wenn Martina Hefter den prekären Alltag einer Frau schildert, die als Pflegerin ihres Mannes tagtäglich über sich hinauswachsen muss und dabei eine fast übermenschliche Selbstdisziplin an den Tag legt. Denn natürlich ist auch Juno nicht nur zart, stark, klug und witzig. Sie ist auch zerbrechlich, traurig, hin und wieder unglücklich, so wie die Autorin vermutlich auch. Doch was beide verbindet, Juno und Martina Hefter, ist, dass sie nicht aufgeben und aus dem, was da ist, Kunst machen, lebendige, bewegende, das Herz anrührende Kunst. Diese Kunst ist die natürliche und treibende Kraft im Leben von Martina Hefter, ich glaube, sie kann gar nicht anders. Und diese Kraft zieht glücklicherweise immer größere Kreise, zeigt immer mehr Wirkung. Mit ihrem Buch Hey guten Morgen, wie geht es dir? konnte sich Martina Hefter am 18. Juli im Hinterhof einer Buchhandlung der Aufmerksamkeit ihres kleinen Leipziger Kosmos gewiss sein. Dass sie in nur wenigen Wochen mit ihrer grenzenlosen künstlerischen Begabung auch den weiterreichenden und allumfassenden Kosmos der literarischen Welt von sich überzeugt hat, man könnte es als großes Glück bezeichnen. Aber eigentlich war es nicht anders zu erwarten.
Herzlichen Glückwunsch Martina Hefter zum Großen Preis des Deutschen Literaturfonds 2024.
Dankrede von
Liebe Gäste, liebe Festgemeinschaft,
heute wird mir der Große Preis des Deutschen Literaturfonds verliehen, und ich fange meine Dankesrede mit einer Feststellung an, die eigentlich nüchtern gemeint ist, aber vielleicht auch als protzig verstanden werden kann: Das ist heute der dritte Preis, den ich innerhalb weniger Wochen entgegennehmen darf. Zugleich ist es übrigens der Preis, von dem ich in diesem Jahr als erstes die Nachricht bekam, dass er mir zugesprochen wird, und ich werde diesen Vormittag nicht so schnell vergessen.
Die Wertschätzung meiner Arbeit, insbesondere durch diesen Preis, den Großen Preis des Deutschen Literaturfonds, der all das würdigt, was ich bisher geschrieben habe, erfüllt mich mit großer Freude und mit Glück. Es ist nicht nur ein rein monetärer Anschub, sondern auch und vor allem ein ideeller, eine Bestätigung, eine Würdigung. Meine Arbeit wird gesehen und auch gemocht.
Dennoch mischen sich ein paar andere Gedanken unter die Freude. Vor zwei Wochen war ich schon mal in Berlin, beim Open Mike, dem wichtigsten Literatur-Nachwuchswettbewerb in Deutschland. Ich war in der Vorjury für Lyrik und habe drei Texte von jungen Autor*innen ausgesucht, die ich großartig fand und von denen zwei am Ende einen Preis bekamen. Beim Open Mike geht es aber nicht nur darum, Preise zu verteilen. Der Open Mike ist ein Forum für Austausch und Entwicklung, eine Feier der Vielfalt der Schreibweisen, und natürlich auch eine Möglichkeit, einen Verlag zu finden und sich im besten Fall als Autor*in zu etablieren. Auch die Veröffentlichung meines ersten Romans Junge Hunde kam durch die Teilnahme am Open Mike im Jahr 2000 zustande. Vor Beginn des diesjährigen Wettbewerbs wurde uns als erstes eröffnet, dass es womöglich der letzte Open Mike gewesen ist, weil die Kürzungen im Bereich der Kultur im Berliner Haushalt massiv sein werden. Meldungen über Kürzungen in der Kultur auf Bundesebene haben uns ja auch schon vorher, seit dem Sommer, erreicht, und sie klingen nicht ermutigend.
Um in der Kunst zu einer Stimme, zu einer Arbeitsweise zu finden, die wahrgenommen wird und die sich dadurch vielleicht irgendwann von selbst trägt, braucht es oft Jahre, das ist auch meine Erfahrung. Man muss Schreibweisen ausprobieren, ein bisschen wie Kleidungsstücke: Welche passen zu mir, welche mag ich weniger? Will ich Lyrik schreiben, oder Prosa, oder Theatertexte, oder alles davon? Mit welcher Stimme, welcher Haltung, welcher Schreibweise ist man für sich selbst glaubwürdig? Das ist die wichtigste Frage. Nur, wenn man das weiß, wird der Text gelingen. Sich darüber sicher zu werden ist ein Prozess, der vielleicht nie richtig zu Ende ist, der sich aber verfestigt und einen immer mutiger werden lässt. Er geht mit einer umfassenden Entwicklung als Mensch einher. Es klingt vielleicht ein bisschen kitschig, aber in jedem Kunstwerk steckt sozusagen das drin, was wir mit “dem Leben” bezeichnen und das wir rational nie so ganz vollständig durchdringen können, ein Rest an Unfassbarem bleibt immer. Und ich finde es nicht vermessen zu sagen, dass Kunst genau deswegen überlebenswichtig ist, sie ist so eine Art Auffangbecken für alles, was wir uns nicht vorstellen können, sie hat eine Funktion ähnlich wie der Traum fürs Gehirn, wo irgendwelche synaptischen Blitze abgeleitet werden müssen. Deswegen müssen wir die Kunst, zu der die Literatur gehört, wertschätzen und diese Wertschätzung auch zeigen, und ja, sie muss gefördert werden, das musste sie schon immer, denn eben
weil sie diese Funktion hat, die ich gerade beschrieb, ist sie kein Produkt, das sich verlässlich immer gleich gut verkaufen kann.
Seit meiner ersten Buchveröffentlichung, dem Roman Junge Hunde sind dreiundzwanzig Jahre vergangen, dazwischen lagen zwei weitere Romane und fünf Gedichtbände. Mein Roman Hey guten Morgen, wie geht es dir?, erreicht jetzt gerade viele Menschen. Ich hatte das beim Schreiben nicht geplant, sowas kann nur schiefgehen. Aber ich wusste zum Beispiel, dass ich diese Geschichte erzählen muss, dass dieses Mal Verse nicht ausreichen würden, um über Juno, Jupiter und Benu zu schreiben. Um das zu wissen, waren die dreiundzwanzig Jahre schon auch notwendig. Das waren finanziell nicht immer einfache Zeiten, zumal ich als pflegende Angehörige eines erkrankten Menschen mit meiner Energie und mit meiner Zeit sehr bewusst umgehen muss. Trotz so mancher widriger Umstände habe ich nie mit dem Schreiben aufgehört. Und genau dazu ermuntere ich jüngere Autor*innen immer: Dass sie nicht aufhören sollen. Allerdings wird dieser Rat dann schwierig, wenn Förderungen komplett ausbleiben, denn dann könnten ihn nur diejenigen beherzigen, die sich das von vornherein leisten können.
Jetzt, wo ich mit meiner Arbeit sichtbar bin, wo ich auch finanziell für eine gewisse Zeit, zu einem gewissen Grad, sorgenlos sein kann, heißt das für mich auch - und das habe ich an anderer Stelle schon mal gesagt - eine gewisse Verantwortung zu haben. Ich habe mich oft gefragt, in welcher Form ich dieser Verantwortung gerecht werden kann. Als erstes heißt das für mich, so naiv es klingen mag, dass wir als Autor*innen einander zugewandt sind und uns nicht so forciert als Konkurrent*innen sehen. Denn auch das will gesagt sein: Das Privileg, überhaupt als Künstlerin arbeiten zu dürfen, ist schon auch nicht ganz klein. Nicht erst seit diesem Herbst empfinde ich es durchaus als Luxus, als Autorin arbeiten zu können - ich kann zum Beispiel in einem Zug sitzen, dessen Ticket mir bezahlt wird, ich kann aus dem Fenster schauen oder etwas arbeiten, und ich bekomme Übernachtungen in Hotels, in denen es manchmal sogar richtig luxuriöses Frühstück gibt, das konnte ich auch schon vor dem jetzigen Roman, ganz ohne einen Preis, während andere Leute an der sprichwörtlichen Aldikasse sitzen, das meine ich schon wirklich ernst. Deswegen lasst uns auch das immer wieder ein bisschen würdigen, dass wir das Glück haben, überhaupt veröffentlichen zu können oder auf dem Weg dorthin sind.
Nächstes Jahr um diese Zeit werde ich wieder am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig unterrichten. Angesichts der Tatsache, dass diese Gastdozenturen nicht gerade gut bezahlt sind, hätte ich auch sagen können: Ach, das mache ich dieses Jahr mal nicht. Aber zu wenig Geld ist in der Kunst selten ein Grund, etwas nicht zu machen. Einmal, weil wenig immer noch besser als nichts ist, zum anderen aber, und das ist der Hauptgrund, weil man eigentlich immer arbeiten will. Ich will nächstes Jahr im Herbst keine freie Zeit haben. Ich will gern die Schreib- und Sichtweisen jüngerer Autor*innen kennenlernen und ein paar Erfahrungen weitergeben, denn ohne das funktioniert auch mein eigenes Schreiben irgendwann nicht mehr.
Ich weiß gar nicht, worin jetzt eigentlich der Schluss dieser Dankesrede bestehen soll. Vielleicht eben darin: in einem großen Dank, dass Sie mit diesem Preis nicht nur meine entstandenen Bücher ehren, also das, was Schwarz auf Weiß geschrieben steht in meinem Werk, sondern auch das, was zu diesem Werk sonst noch alles gehört, bestärken. So unsichtbare und selten diskutierte Dinge wie Haltung. Dass Sie mich in meiner Haltung bestärken, dass Literatur auch, wie jede Kunst, eine soziale Praxis ist. Damit ich diese Praxis fortführen kann, und es mit mir viele andere auch können, auch dabei hilft dieser Preis.