Kontakt FAQ

Großer Preis des Deutschen Literaturfonds 2025 an Katerina Poladjan

Den mit 50.000 Euro dotierten „Großen Preis des Deutschen Literaturfonds“ erhält in diesem Jahr Katerina Poladjan. Sie wurde von der Jury, bestehend aus Matthias Kniep, Hans Thill und Miriam Zeh, aus dem Kreis der bisher durch den Deutschen Literaturfonds geförderten Stipendiaten und Stipendiatinnen gewählt.

Der Preis wird am 26. November 2025 im Literarischen Colloquium Berlin überreicht.

Der Große Preis des Deutschen Literaturfonds

Der Deutsche Literaturfonds, der sich seit 1980 der Förderung deutschsprachiger Gegenwartsliteratur widmet, hatte 2020 sein 40-jähriges Jubiläum zum Anlass genommen, erstmals den mit 50.000 Euro dotierten Großen Preis des Deutschen Literaturfonds zu vergeben. Der Preis geht hervor aus dem zuletzt mit 30.000 Euro dotierten Kranichsteiner Literaturpreis, der zwischen 1983 und 2019 jährlich durch den Deutschen Literaturfonds in Darmstadt verliehen wurde.

Begründung der Jury

„Der Große Preis des Deutschen Literaturfonds geht 2025 an die Autorin Katerina Poladjan. Ihre Romane sind Schatzkästchen. An einer Figur oder einem Gebäude, einem einzelnen erzählten Tag oder einer therapeutisch aufgearbeiteten Lebensgeschichte kann die 1971 in Moskau geborene Katerina Poladjan die Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts in all ihrer Ambiguität aufblättern. So öffnete ihr Roman Zukunftsmusik (2022) jenen kurzen historischen Moment, als in der Sowjetunion mit dem Tod des Generalsekretärs Konstantin Tschernenko alles möglich schien – für die Bewohner der unscheinbaren Kommunalka und das ganze Land. In Hier sind Löwen (2019) wagt sich ein Geschwisterpaar in schönster lakonischer Sprache auf die Spuren ihrer Familie, die im Ersten Weltkrieg dem Völkermord an den Armeniern zum Opfer fiel.
Anfang der 70er Jahre an den Händen ihrer Eltern 'durch einen Spalt im eisernen Vorhang gezogen', wie sie es selbst einmal formuliert hat, balanciert Katerina Poladjan dabei auf den Schultern der russischen Weltliteraten und schreibt von dort aus europäische Romane. In Goldstrand (2025) zeichnet sie von den 1920er Jahren bis zur Gegenwart eine Familien- und Exilgeschichte, in der Verlust und Aufbruch einander die Hand geben wie eine Generation der nächsten, bis ein melancholisches Panorama einer europäischen Epoche entsteht.
Als Autorin beherrscht Katerina Poladjan verschiedene Tonalitäten, von märchenhaft bis postmodern. Doch zeichnen sich alle ihre Romane durch ihre Form, eine besondere dramaturgische Kunstfertigkeit und Erzählökonomie aus. Mit schriftstellerischer Sensibilität und feinem Humor verlässt sich Katerina Poladjan dabei stets auf ihre Geschichten, um Geschichte zu erzählen. Ihre Bücher sind eine Verteidigung der Menschlichkeit, der aktuellen Weltlage zum Trotz.

Für ihr Gesamtwerk und unter besonderer Berücksichtigung des aktuellen Romans Goldstrand verleiht die Jury Katerina Poladjan den 'Großen Preis des Deutschen Literaturfonds'.“

Begründung der Jury, der Matthias Kniep, Hans Thill, Miriam Zeh angehören

Laudatio auf Katerina Poladjan von Monika Rinck

Willkommen am Goldstrand! Goldstrand – das ist im jüngsten Roman von Katerina Poladjan ein utopisch-brutalistischer Ferienort an der bulgarischen Schwarzmeerküste, geplant im Idealmaß und offen für alle, seine klare Form soll ein neues Leben ermöglichen: „keine Überfrachtung, keine akademisch gesetzten Geometrien, kein Spiel und keine Romantik. (…) Klarheit in Form und Materie.“ So beschreibt ihn in einem Brief an seinen Vater der Architekt Felix, und wir (Leser’innen) wissen davon, weil dessen Sohn Eli Fontana seiner römischen Psychoanalytikerin Signora Malatesta im Zuge seiner Analyse davon berichtet. „Danke, unsere Zeit ist um. Wir sehen uns am Donnerstag.“ Signora Malatesta portioniert die Erzählung, als kappe eine der Moiren den Erzählfaden, aber tut dies einstweilen immer nur vorläufig. In der Zwischenzeit driftet der Filmemacher Eli Fontana nahezu manövrierunfähig durch ein Durcheinander von Zukunftsplänen, die er gleich wieder verwirft und versucht dem Ansturm unfreiwilliger Erinnerungen standzuhalten. In der nächsten Woche wird die Talking Cure weitergehen, er wird weitererzählen.

Was die Psychoanalyse mit der Literatur teilt, ist zweierlei: Einerseits die Grundannahme, dass die Sache zur Sprache kommen muss, (und bei "der Sache" kann es sich um eine stumme Symptomatik, um seelisches Leid oder neurotische Wiederholungszwänge handeln). Und andererseits die Einsicht, dass die Sache oft gar nicht so ist, wie sie sich darstellt, dass sie noch gar nicht vorliegt, dass also die Sache und (umso mehr) ihre Lösung erst noch gefunden oder freigelegt werden müssen.

"'Natürlich habe ich ein Ziel", beschwert sich Eli gegenüber seiner Dottoressa, die dies zu bezweifeln scheint. "Ich möchte geliebt werden und ich möchte lieben, und ich möchte die Niedertracht und die Dummheit und das Mittelmaß bekämpfen. Ich weiß, dass mein Beitrag armselig ist, aber manchmal denke ich, dass ich allein auch durch mein Sein einen Beitrag leiste.' Die Dottoressa notiert etwas in ihr Heft."

Das Ziel ist zunächst, stumme Symptome und nachdrückliche, aber entstellte Bilder zur Sprache zu bringen. Sie zu heilen, heißt sie zu deuten. Und zwar kraft einer Deutung, die der Analysand annehmen kann. Der Deutung kommt eine maßgebliche Rolle zu, aber deutet die Dottoressa denn überhaupt? Nun ja, großteils hält sie sich eher zurück. Wer tut es dann? Wer wäre denn noch da? Die Autorin vielleicht? Die schüttelt freundlich, aber bestimmt den Kopf. Da hilft kein Insistieren. Denn sie weiß, dass viele erstaunliche und viele traurige Dinge ohne Begründung kommen und Lügen meist dann auffliegen, wenn sie sich zu sehr um Details bemühen und ein Wissen vortäuschen, das es so gar nicht geben kann. Auch Geschichten werden dadurch nicht unbedingt besser. Ich kenne kaum jemanden, der oder die ihren Figuren eine derartige, nachgerade unverantwortliche Autonomie zugesteht, wie Katerina Poladjan es tut. Ja, ihre Figuren führen wirklich ein Eigenleben, zum Glück.

Wenn weder die Dottoressa noch die Verfasserin sich für die Deutung verantwortlich sehen, kann es gut sein, dass diese Aufgabe uns, den Leser*innen zukommt. Wir befinden uns also von Anfang an: in einem Dreieck. Hier ist die Analytikerin, hier der Analysand und hier: die Leser*in, der Leser.

Das sind drei Pole, zwischen denen sich nun ein Konfliktpotenzial entfaltet, mit dem sich erkennend und affektiv auseinanderzusetzen bedeutet, in den therapeutischen (oder hermeneutischen?) Prozess einzutreten. Zurück in die Erinnerung, Wort für Wort in die Vergangenheit, denn nichts, woran man sich erinnern kann, ist vorbei. Doch sie kommt in Varianten. Und keine davon ist weniger wahr als die andere. Wirklich? Was würde Vera, die skeptische Tochter von Eli dazu sagen, die die Wahrheit schon im Namen trägt? (Wobei das die lateinische Lesart ist, im slawischen Sprachraum wird Vera auf: Glaube, Zuversicht, Vertrauen zurückgeführt.)

"Ich will meine eigene Wahrheit", sagt Mascha, in einem anderen Buch, in In einer Nacht, woanders. Und weiter: "Ich bin das, was meine Erinnerung ist." Doch wird hier in aller Kälte klar: Das, was ihre Erinnerung ist, ist nicht vollständig ohne das, was die Erinnerung der anderen ist. Auch in der Erinnerung ist das Selbst die Gabe des Anderen, das sich sprechend informiert. Alleine geht garnichts, auch die Wahrheit nicht.

Der Psychoanalyse ist es ja um die Aufdeckung einer inneren Wahrheit zu tun, die nicht der heute gegebenen Realität entsprechen muss. Dafür sieht der psychoanalytische Vertrag unter anderen folgende Abmachungen vor: Alles, das heißt, wirklich alles sagen, durch die Scham hindurch, Als Einspruch gegen Spaltung und Reduktion und gegen einen verdrängenden Begriff von Vernunft, wie es Klaus Heinrich in seinen Psychoanalyse-Vorlesungen formuliert hat. Dann: Allem, was aufkommt eine freundliche Aufmerksamkeit schenken. Im Ernstnehmen des vermeintlich Unwichtigen liegt ein Verstoß gegen den überlieferten Substanzbegriff: Alles tut etwas zur Sache. Denn wir kennen die Sache vielleicht noch gar nicht. Sie ist noch nicht hier.

Außerdem: die Vorrangstellung des Assoziativen. Alles zuzulassen, auch und gerade das weit Hergeholte, das Unwahrscheinliche, das Nichtige. Es gilt, die Realität, die das Assoziative mit sich bringt, nicht abzutun. Weil es eben so ist. Aber ist es so? Katerina Poladjan kann diese plötzlichen Momente, in denen das Bewusstsein, an der Realität vorbei, rasend die ideale Beschreibung seines Zustandes findet, in einer Art Bildersturz, dem Fast Forward einer vorauseilenden Imagination, so beschreiben, dass einem schier der Atem stockt. Die Realität bleibt indes bestehen, nur ist es eine erweiterte nun, in der es aber immer noch keine Lösung gibt. Der Psychoanalyse geht nicht darum, das Leid zu vermindern oder gar zu leugnen, sondern darum, das Vermögen, den Schmerz zu tolerieren (und die Angst auf sich zu nehmen) zu erhöhen. Das wissen auch die Figuren, die uns in den Romanen von Poladjan begegnen. Nicht die Reparatur ist das Ziel, sondern eine neue Entfaltung des Ichs, zu dem auch das Weiterwirken des negativen, bislang verneinten Teils der Persönlichkeit gehört. Es gehört das Aufgeben von Routinen und Sicherheiten dazu, der Übergang in ein Noch-Nicht, das gemeinsam (mit der Analytikerin, dem Analysanden, der Verfasserin und der Leser*in) gegen die Gleichgültigkeit der voranschreitenden Sterblichkeit zu verteidigen ist.

Wo? Wie bitte? Wo wäre sie zu verteidigen? Nun, vielleicht in Marseille? Warum nicht. Die plötzliche Haltlosigkeit, die die weibliche Hauptfigur des Romans Vielleicht Marseille erfasst, nachdem ihr Mann unerwartet verstorben ist, führt sie von München nach Salzburg, in die Alpen, an der Seite einer Blitzbekanntschaft, einem französischen Kriminalisten, dessen Auto sie stehlen wird und der seinerseits … (ach, lesen Sie es einfach selbst, ich kann es sehr empfehlen) – – – – – – diese plötzliche Haltlosigkeit mündet in ein Noch-Nicht, das Katerina Poladjan im letzten Kapitel des Buches Vielleicht Marseille mit einem einzigen Wort bezeichnet: Sonntag.

Das ist das ganze siebte Kapitel. Offenbar ist die Schöpfung auch am 7. Tag noch nicht ganz vollendet. Da ist noch Platz. Eine ganze leere Seite rund um das Wort „Sonntag“. Oder braucht es einfach Raum, um zu ruhen? So mag es sein, ganz ohne Begründung. Ist ein plötzlicher Todesfall nicht Begründung genug? Begründung genug, um ein Leben zu führen, in dem man wirklich seinen Gedanken nachgeht, mit der ganzen Beschleunigung der Vorstellungskraft? Daran erinnern uns die Bücher von Poladjan, die auch von einer abgründigen, wie herbeigelittenen Heiterkeit sind, wenn ihre Figuren von einer halsbrecherischen Aufrichtigkeit erfasst, plötzlich allen alles sagen, oder auch: alles, wirklich alles erfinden. Indem sie sich weigern, ein reduziertes Selbst zu bejahen, sind sie ein Vorbild dafür, dass diese Weigerung zwar nicht einfach, aber auch nicht unmöglich ist, sowohl in der Literatur wie in der Wirklichkeit.

Liebe Katerina, ich gratuliere Dir herzlich zum Großen Preis des Literaturfonds und danke Ihnen allen für Ihre Aufmerksamkeit.


Dankrede von Katerina Poladjan

Im Alter von sechzehn Jahren wusste ich nicht, was ich werden wollte. Rebellisch interessierte ich mich für die Umdeutung gemeiner Wahrheiten, denn die Welt war damals weder gültig noch verbindlich. Ich hatte nicht vor, Schriftstellerin zu werden, das hätte ich nicht zu träumen gewagt, aber ich habe die Literatur geliebt. Ich weiß nicht, ob ich alles verstand, was ich las, aber ich habe alles, was ich in die Finger bekam, gelesen – gehend, stehend, sitzend, liegend. Und ich habe verstanden, welche Macht Worte haben. Sie können uns – eins zwei drei – vernichten, uns in den Abgrund stürzen, uns in den Himmel heben. Mich hat die Literatur glückselig verschwinden lassen, sie hat mich mit mir selbst versöhnt. Ich war nicht allein und konnte Blechhühner züchten.

Wunderbar wirken Worte im Wartezimmer des Zahnarztes kurz vor der Bohrung, Worte wie diese des italienischen Dichters aus dem frühen 19. Jahrhundert, Giacomo Leopardi:

"Alles ist schlecht. Das heißt, alles was ist, ist schlecht; dass jedes Ding existiert, ist das Schlechte; jedes Ding existiert nur um des Schlechten willen; die Existenz ist etwas Schlechtes und wird vom Schlechten bestimmt; das Ziel des Universums ist das Schlechte; die Ordnung und der Staat, die Gesetze und der natürliche Gang des Universums sind nur schlecht, sind auf nichts anderes gerichtet als das Schlechte. Es gibt kein anderes Gut, als das Nichtsein: Es gibt nichts anderes Gutes als das, was nicht ist; als die Dinge, die keine Dinge sind: alle Dinge sind schlecht."

Sie erinnern sich bestimmt an den Film Die Invasion der Körperfresser. Dr. Bennell geht in den Keller, macht eine Entdeckung. Dann leinwandfüllend sein Gesicht mit der Frage: Ist das der Körper meiner Frau?
Im Wartezimmer des Zahnarztes muss ich immer daran denken. Die Welt wird unsicher. Das Vertraute wird fremd. Jeder liest seine Zeichen und malt ein eigenes Menetekel an die Wand.

Szenenwechsel. Ein Nachmittag am Strand von Rimini zur Hauptsaison. Unter einem Sonnenschirm, in der Hand einen Plastikbecher mit Aperol Spritz schweift der Blick über halbnackte Menschen, die im Wasser stehen, laut telefonieren und die Sonne feiern. Jetzt, in dieser Kulisse, plötzlich ein Gedicht von Elke Erb:

Spielraum
Es fängt an dunkel zu werden
Es hört auf hell zu sein
Und Greifswalds Vogel ist Greif
Es hört auf dunkel zu sein
Es fängt an hell zu werden
Und zwei ist eins

Und jetzt möchte ich feiern – den Widerspruch und das Mögliche,
denn jetzt ist Gelegenheit.
Jetzt können wir weiterlesen,
weiterschreiben,
die Mühen der Ebene tapfer durchschreiten,
zärtlich sein und tanzen,
Champagner für die Pferde reichen,
die Nachbarn nicht vergessen.
Jetzt können wir uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.
Jetzt können wir Brecht zitieren:

"Auch der Hass gegen die Niedrigkeit
verzerrt die Züge.
Auch der Zorn über das Unrecht
Macht die Stimme heiser."

Jetzt können wir Worte klauben,
Kümmel spalten,
innehalten.
Jetzt können wir streiten,
freundlich sein,
zuhören.
Jetzt können wir uns begegnen.

Ich danke für diesen Preis, der mir Ehre und Auftrag ist.


Diese Website verwendet Cookies, um Ihnen eine gute Nutzererfahrung zu ermöglichen.

Dazu gehören wichtige Cookies, die für den Betrieb der Website notwendig sind, sowie andere, die nur für anonyme statistische Zwecke oder die Darstellung externer Inhalte zuständig sind. Sie können selbst entscheiden, welche Kategorien Sie zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass je nach Ihren Einstellungen möglicherweise nicht alle Funktionen der Website zur Verfügung stehen. Details finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.

Diese Website verwendet Cookies, um Ihnen eine gute Nutzererfahrung zu ermöglichen.

Dazu gehören wichtige Cookies, die für den Betrieb der Website notwendig sind, sowie andere, die nur für anonyme statistische Zwecke oder die Darstellung externer Inhalte zuständig sind. Sie können selbst entscheiden, welche Kategorien Sie zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass je nach Ihren Einstellungen möglicherweise nicht alle Funktionen der Website zur Verfügung stehen. Details finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.

Ihre Cookie-Einstellungen wurden gespeichert.